Schwere Geburt: Nach dreitägigen Verhandlungen haben sich IGBCE und Chemie-Arbeitgeber auf ein Entlastungspaket für die gut 580.000 Beschäftigten der Branche geeinigt, das sowohl akute Energiepreissprünge abfedert als auch tabellenwirksam die Entgelte steigert. Die Tarifeinigung bedeutet eine Netto-Entlastung von bis zu 15,6 Prozent für die Beschäftigten.
Stunde um Stunde hatten die Verhandlungskommissionen von IGBCE und BAVC (Bundesarbeitgeberverband Chemie) miteinander gerungen, um zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen – bis tief in die Nacht liefen die Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern, bevor man sich einig wurde. „Wir haben mal wieder Nachtschichtzuschläge verdient“, erklärte IGBCE-Verhandlungsführer Ralf Sikorski mit Blick auf die Marathongespräche. Man hätte nicht weniger als die „Quadratur des Kreises“ angestrebt, also eine schnelle, spürbare und deutliche Entlastung für die Beschäftigten und eine tabellenwirksame Erhöhung der Entgelte, die aber die Unternehmen der Chemiebranche nicht überfordert, sagte er.
In 40 Jahren habe er nicht in so einem herausfordernden Umfeld verhandeln müssen, so Sikorski mit Blick auf die aktuelle Situation mit Krieg und Rekordinflation. Angesichts dessen hätte man ein Paket geschnürt, das sich sehen lassen könne. Zumindest temporär für 2023 und 2024 sei es gelungen, den Beschäftigten in der Chemie- und Pharmabranche einen Inflationsausgleich zu verschaffen. „Diese Mission ist erfüllt“, konstatierte Sikorski. „Wir haben unter miserablen Rahmenbedingungen Wort gehalten und eine intelligente Kombination aus schnell spürbarer Entlastung und nachhaltigem Lohnplus durchgesetzt“, sagte er. „Die Menschen profitieren vom attraktiven ,Brutto-für-Netto‘-Angebot der Bundesregierung genauso wie von der höchsten Tariferhöhung in der Chemie seit mehr als 30 Jahren.“ Zusammen mit den staatlichen Entlastungspaketen und der unter IGBCE-Vorsitz entwickelten Gaspreisbremse lasse sich so der finanzielle Druck auf die Chemie-Beschäftigten in der Krise spürbar eingrenzen.
Das verhandelte Entlastungspaket sieht als tarifliches Inflationsgeld steuerfreie Sonderzahlungen in zwei Tranchen von jeweils 1500 Euro pro Kopf vor, die spätestens im Januar 2023 und im Januar 2024 fällig werden. Ebenfalls jeweils zum Januar 2023 und 2024 greifen zudem tabellenwirksame Entgelterhöhungen von je 3,25 Prozent, in Summe also 6,5 Prozent. Letztere gelten auch für die Auszubildenden, die zusätzlich je 500 Euro Sonderzahlung in zwei Tranchen erhalten (insgesamt 1000 Euro). Die Tariferhöhungen können aus wirtschaftlichen Gründen mittels Betriebsvereinbarung um bis zu drei Monate verschoben werden, für die Sonderzahlung gilt dies nicht.
Mit dem tariflichen Inflationsgeld wird das Angebot der Bundesregierung, zur Entlastung der Menschen Arbeitgeberzahlungen von bis zu 3000 Euro steuer- und abgabenfrei zu stellen, voll ausgenutzt. Sonderzahlungen und tabellenwirksame Entgelterhöhungen erzeugen in Summe für Chemie-Beschäftigte eine Nettoentlastung von durchschnittlich 12,94 Prozent, in der niedrigsten Entgeltgruppe liegt sie sogar bei 15,64 Prozent. Laut aktuellen Prognosen wird während der Laufzeit des Tarifvertrags bis Sommer 2024 eine Gesamtinflation von zwölf Prozent erwartet.
„In dieser historischen Ausnahmesituation mit ungekannten Inflationsraten und drohender Rezession haben die Tarifparteien Verantwortung für die Beschäftigten, den Industriestandort und die Binnennachfrage zugleich übernommen“, lobte IGBCE-Chef Michael Vassiliadis das Ergebnis. „Dieser Abschluss hat Signalwirkung über die Branche hinaus. Beweist er doch, dass gut gemachte Tarifpolitik zentraler Baustein eines gesamtgesellschaftlichen Bollwerks gegen Inflation und Energiekrieg sein kann.“
Auch die Mitglieder der Bundestarifkommission Chemie bewerteten das Ergebnis positiv: „Hervorragender Abschluss“, sagte etwa Arndt Wieckhorst von der Covestro Deutschland AG. „Viel Weitblick, längere Laufzeit, das können wir akzeptieren und gibt uns etwas Zukunftssicherheit in der jetzigen Krisensituation.“
Cem Simsir (Evonik Industries) erklärte: „Das ist ein Ergebnis, dass sich sehen lassen kann. Das zeigt, dass auch in Krisenzeiten Sozialpartnerschaft funktionieren kann.“ Es freue ihn besonders, dass auch die Azubis mit dem Abschluss entlastet würden. Ähnlich äußerte sich Sarah-Maria Eckrich von BASF, die die Interessen der Jugend in der Tarifkommission vertritt: „Auch und gerade für die Auszubildenden ist es ein guter Schritt. Natürlich ist immer Luft nach oben, aber für die aktuelle Situation finde ich das wirklich ein sehr gutes Ergebnis.“
Er sei angesichts der angespannten Lage skeptisch angereist, sagte Tarifkommissionsmitglied Hussin El Moussaoui (Evonik Industries). „Was jetzt hier erreicht worden ist, finde ich ein tolles Ergebnis, das müssen wir noch in die Belegschaften gut kommunizieren.“
Neben dem monetären Teil haben sich die Sozialpartner zudem darauf verpflichtet, gemeinsam an der Stärkung der Tarifbindung zu arbeiten. Im Rahmen der Laufzeit des Tarifvertrages sollen Ideen für tarifliche Regelungen zur Stärkung der Tarifbindung auf beiden Seiten entwickelt werden.
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