Bezirk Dresden-Chemnitz

30 Jahre Betriebsverfassungsgesetz in den neuen Bundesländern: "Mitbestimmung ist unsere Währung"

Vor 30 Jahren bekam die DDR nicht nur die D-Mark als neue Währung, sondern auch das Betriebsverfassungsgesetz - unsere Währung als Gewerkschaft. Die IG BCE wirft daher einen Blick zurück in eine Zeit des Aufbruchs und der Demokratisierung der Wirtschaft.

Oliver Heinrich
Foto: © Katrin Schade

Oliver Heinrich, IG-BCE-Landesbezirksleiter Nordost: 

„Auch 30 Jahre danach darf dieser geschichtsträchtige 1. Juli 1990 nicht nur als Tag der Währungsunion angesehen und gefeiert werden. Es ist uns wichtig zu betonen, dass sich für die Arbeitnehmer in der damaligen DDR an diesem Tag auch eine große Tür zum Thema Freiheit und Mitbestimmung öffnete. Denn am 1. Juli 1990 trat ebenso das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) in Kraft. Deshalb blickt die IG BCE auf eine Geschichte des Aufbruchs und der Demokratisierung der Wirtschaft zu Gunsten der Würde der arbeitenden Menschen zurück.

Es war keinesfalls ein leichter Weg. Die Menschen im Osten mussten auch ihr Arbeitsleben neu ausrichten. Aber das ist mit der Gewerkschaft, deren Mitgliedern und Betriebsräten und dem BetrVG gelungen. Wir können stolz sein. Unsere Mitglieder in den Neuen Bundesländern werden mutiger und emanzipierter.

Deshalb ist am 1. Juli 2020 unser deutliches Signal an die Arbeitgeber: Wir werden auch in Zukunft Mitbestimmung und Tarifverträge mitgestalten. Wir werden nicht von unserem Pfad der Mitbestimmung abweichen. Sie ist unsere Währung. Dieses darf heute nicht in der Erinnerung an den Tag, als die DM-Mark kam, untergehen.“

Grund zum Feiern

Für die IG BCE in Nordost ist der 30. Geburtstag des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) in Ostdeutschland ein Grund zum Feiern. Am 1. Juli 1990 trat das BetrVG auf Grundlage des „Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion“ (Anm.: gemeinhin als Staatsvertrag bezeichnetes Dokument) in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in Kraft. Ein in der Geschichtsschreibung unterbelichtetes Datum auf dem Weg zur friedlichen Wiedervereinigung beider deutscher Staaten. Für die IG BCE ist das Datum Anlass, zurückzublicken auf eine Geschichte des Aufbruchs und der Demokratisierung der Wirtschaft zu Gunsten der Würde der arbeitenden Menschen. Das Jubiläum reiht sich ein in das 100. Jubiläum des Betriebsrätegesetzes (BRG), das IG BCE und DGB im Februar dieses Jahres zum Gedenken an die Mitbestimmung in Deutschland gefeiert haben. Das heutige BetrVG ist die Weiterentwicklung des BRG vom 04. Februar 1920, das 1934 von den Nazis verboten wurde. 1952 trat in der Bundesrepublik Deutschland das BetrVG als Weiterentwicklung zum BRG in Kraft. Seitdem hatten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Westdeutschland wieder das Recht, Interessensvertreterinnen und Interessensvertreter im Betrieb demokratisch zu wählen. Die Gesetzgebung in der DDR hebelte dieses Recht aus. Hier übernahm die Gewerkschaftsleitung unter dem Einfluss von Partei und Staat die Aufgabe von Betriebsräten. Damit war nach der Maueröffnung am 09. November 1989 Schluss.

Engagement und vereinter Wille

In vielen Betrieben, auch im heutigen Organisationsbereich der IG BCE, organisierten sich engagierte Kolleginnen und Kollegen und bereiteten die ersten Betriebsratswahlen vor. Sie vereinte der Wille, über die Zukunft der Industriestandorte und der Arbeitsplätze mitzubestimmen und die Dinge nicht einfach treiben zu lassen. Im Organisationsbereich der IG BCE in Nordost engagieren sich heute über 3.600 Betriebsrätinnen und Betriebsräte in rund 750 Betrieben für ihre Kolleginnen und Kollegen. Damit sind Betriebsräte ein stabiler Pfeiler der sozialen Demokratie in Ostdeutschland. Sie leisten einen unverzichtbaren Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den ökonomischen Fortschritt. Das belegen auch aktuelle Studien. Mitbestimmte Unternehmen sind stabiler und erfolgreicher und meistern Schwächephasen besser. In Betrieben mit Betriebsrat sind die Arbeitsplätze sicherer, die Entgelte höher und die Arbeitsbedingungen besser. Und es gibt mehr Gerechtigkeit, auch bei der Bezahlung von Männern und Frauen. Alle diese Vorzüge werden auch in der aktuellen Corona-Krisenpolitik wieder sichtbar. Einmal mehr wird darum deutlich, dass sich alle Personen, die in Wirtschaft und Politik Verantwortung tragen, zur Zukunft der Mitbestimmung bekennen und notwendige Anpassungen im BetrVG für die Herausforderungen der großen Transformation vornehmen müssen. Nach den Reformen 1972 und zuletzt 2001 brauchen wir endlich ein Update 4.0. Vorschläge der IG BCE und der Mitgliedsgewerkschaften im DGB liegen dazu auf dem Tisch.

Appell an Arbeitgeber und ihre Verbände

Anlässlich des dreißigjährigen Jubiläums richtet sich unser Appell in besonderem Maße an die Arbeitgeber und ihre Verbände in Ostdeutschland. Hier hat die soziale Ordnung mit Mitbestimmung und Tarifvertrag einen dramatischen Tiefstand erreicht. Zu viele Arbeitgeber in Ostdeutschland sind auf Krawall gebürstet, sie glauben, Geschwindigkeit sei am besten zu erreichen, wenn die Kultur der Arbeit weniger demokratisch und mehr autoritär organisiert ist. Ein gefährlicher Trugschluss. Statt einer Kultur der Arbeit, die durch Mitbestimmung im Betrieb und Sozialpartnerschaft in den Verbänden geprägt ist, entwickelt sich so eine Kultur der Diktate: Der Hund kommt ans Tor gebellt statt Arbeitnehmer*innen- und Arbeitgebervertreter*innen an den Verhandlungstisch.Der 01. Juli 2020 ist ein guter Anlass, um innezuhalten. Denn die Fähigkeit, Dinge nicht treiben zu lassen, ist letzten Endes eine Bewusstseinsfrage. Die IG BCE im Landesbezirk Nordost möchte Mitbestimmung und Tarifverträge im nächsten Jahrzehnt gestalten. Wir bauen dazu unsere Gestaltungskraft aus, passen die Beteiligungskultur und die Kommunikation an die neuen Herausforderungen an. Die Beschäftigten werden mutiger; daher sollten die Arbeitgeber aufpassen, den richtigen Weg einzuschlagen. Unsere Hand bleibt ausgestreckt.