Chemie-Gipfel beim Bundeskanzler

Großes Karo ist jetzt gefragt!

Mit Blick auf die Zukunft unserer energieintensiven Industrien stehen wir vor entscheidenden Wochen. Nicht nur die konjunkturellen Bedingungen sind schlecht, auch droht der heimische Standort im internationalen Wettlauf den Anschluss zu verlieren. Dies vor allem deshalb, weil andere Volkswirtschaften inzwischen eine klimagerechte Industrie ebenso als Wachstumsfeld erkannt haben – zwar später als wir, aber dafür mit viel Drive in der Umsetzung. Schnelles Handeln ist deshalb angesagt.

Michael Vassiliadis im Interview
Foto: © Stefan Koch

Dafür setzen wir uns mit Nachdruck ein. Bereits im Januar haben wir einen Chemie-Gipfel beim Bundeskanzler gefordert, um über Rahmenbedingungen und Transformation dieser für die gesamte Volkswirtschaft so zentralen Branche zu sprechen. In dieser Woche findet er nun statt. Dabei sind nicht nur Verbände, Industrie und die IGBCE, sondern auch Regierungschefinnen und -chefs der Länder. Diese haben zusätzlich eine „Allianz zum Erhalt der chemischen Industrie in Deutschland“ gebildet.

Und in der „Allianz pro Brückenstrompreis“ werben wir gemeinsam mit DGB, IG Metall und den Verbänden der Chemie-, Metall-, Papier- und Glasindustrie für einen bis 2030 begrenzten Preisdeckel für all die Branchen, die im internationalen Wettbewerb stehen, um nachgelagerte Industriestufen und damit uns Endkundinnen und -kunden mit den Vormaterialien zu beliefern, die sie und wir alle benötigen.

Der Bundeskanzler hat nicht nur zum Chemie-Gipfel geladen, er wird auch zwei Tage später dem wichtigsten Gremium der IGBCE zwischen den Gewerkschaftskongressen, dem 150-köpfigen Beirat, Rede und Antwort stehen. Die „Ampel“ hat bereits vieles auf den Weg gebracht, um das Land nach Jahren des Stillstands auf Modernisierungskurs zu bringen. Schon die Initiativen zum beschleunigten und ernsthaften Ausbau der Erneuerbaren sind richtig und wichtig, ebenso wie das Wachstumschancengesetz oder der „Deutschland-Pakt“. Nur wird es dabei nicht bleiben können. Die Herausforderungen des Industriestandorts sind so groß, dass wir sie nicht mit kleinem Karo werden beantworten können.

Wir brauchen einen industriepolitischen Befreiungsschlag, der uns international wieder auf Augenhöhe bringt. Wir müssen alle Hebel in Bewegung setzen, damit die Energieintensiven jetzt in die Transformation der heimischen Standorte investieren – und nicht ins Ausland abwandern. Nur so sind der Erhalt guter Arbeitsplätze, eine sichere Versorgung anderer Industrien und Fortschritte im Klimaschutz garantiert.

Denn Verlagerung findet bereits statt – vor allem in der Chemie-, der Papier-, Kautschuk-, Keramik- und Glasindustrie. Das gilt nicht nur für bekannte Namen, sondern auch für regionale Größen. Die IGBCE und ihre Betriebsräte verhandeln derzeit in zig Betrieben darüber, die Einschnitte sozialverträglich zu gestalten. Vor allem nährt das eine Sorge: Dass das nur der Anfang ist und die energieintensiven Industrien nach und nach dem Standort Deutschland den Rücken kehren. Die Gefahr war noch nie so groß wie heute. Das ist beileibe nicht trivial, denn auch die folgenden Glieder der industriellen Wertschöpfungskette wären davon betroffen.

Die energieintensiven Industrien und ihre 1,1 Millionen Beschäftigten sind weder umschwärmte Stars noch publicityträchtige Problemkinder der deutschen Wirtschaft. Sie machen seit Jahrzehnten einfach ihren Job – effizient, unaufgeregt, (fast ein wenig zu) zurückhaltend. 97 Prozent der Deutschen haben keinerlei Bezug zu dem, was meist hinter kilometerlangen Zäunen auf streng abgeriegelten Werksanlagen stattfindet.

Was man nicht kennt, dessen Bedeutung unterschätzt man bekanntlich gern. Und hält man für verzichtbar. Dass ohne diese Branchen weder Smartphones, noch Windräder, Maschinen oder Autos gefertigt werden könnten, wird dabei gern übersehen. Genauso wie die Tatsache, dass hinter den kilometerlangen Zäunen Menschen arbeiten, die einen massiven Beitrag zur Wertschöpfung des Landes erbringen.

Nicht ohne Grund haben diese Beschäftigten über IGBCE-Tarifverträge geregelte, gut bezahlte und abgesicherte Arbeitsplätze. Weder brauchten sie in den vergangenen Jahrzehnten Nothilfen, noch massive staatliche Subventionen. Sie sind die Garanten eines industriellen Netzwerks, das weltweit seinesgleichen sucht. Karl Haeusgen, der Präsident des Maschinenbauverbands VDMA, hat es neulich so beschrieben: „Ein Maschinenbauer kann von München aus mit einem Lastwagen losfahren und innerhalb von vier Stunden alles einsammeln, was er für eine komplizierte Anlage braucht. Elektronik, Metalle, Kunststoffe. Es gibt nicht viele Standorte auf der Erde, wo so etwas möglich ist.“

Genau. Nur: Genau dieses Modell ist jetzt in akuter Gefahr. Zu toxisch ist das Gebräu, das sich da für die Energieintensiven in den vergangenen Monaten und Jahren aus diversen unguten Zutaten gebildet. Ausgerechnet jetzt erreicht das Ganze einen Kipppunkt. Jetzt, da die Energieintensiven die Transformation der heimischen Werke und Anlagen angehen wollen. Diese Modernisierung ist nicht nur eine Chance für weitere Fortschritte beim Klimaschutz in Deutschland, sondern auch eine Chance auf eine nachhaltige Sicherung der Standorte und Arbeitsplätze. Wo einmal massiv investiert wurde, da wird so schnell nicht wieder abgebaut. So kann das deutsche Modell einer eng vernetzten Industrie ins Zeitalter der Klimaneutralität geführt werden.

Aber dafür braucht es bessere Rahmenbedingungen. Und für die sind Politik und öffentliche Hand verantwortlich. Es gibt nur wenige Industriebranchen, die so abhängig von staatlichen Entscheidungen oder eben auch von Nicht-Entscheidungen sind wie die Energieintensiven. Es kann nicht sein, dass unsere Industriestrompreise dreimal so hoch sind wie in Frankreich. Es kann nicht sein, dass sich ein Chemieunternehmen für Neuprojekte erstmal durch 14.000 Seiten Verordnungen wälzen muss, ohne dass überall ein Mehrwert an Sicherheit oder Transparenz entsteht. Es kann nicht sein, dass Werke CO2-frei werden wollen, ihnen aber die komplette Infrastrukturanbindung dafür fehlt. Es kann nicht sein, dass Mittelständler ihre Transformation vorantreiben wollen, der Staat sie aber mit einem Unterfangen allein lässt, das zunächst einfach nur sehr viel Geld kostet, aber keinen Euro mehr einbringt. Die Liste ließe sich nahezu unendlich fortsetzen.

Deshalb dringt die IGBCE auf ein standortpolitisches Anreizpaket, das auch international mithalten kann. Das beginnt bei Strompreisen, die wir mit staatlicher Hilfe auf Augenhöhe mit denen anderer Industrienationen bringen müssen. Wohlgemerkt: Nur für die vor uns liegende Durststrecke bis 2030, in der nicht genug erneuerbare Energie zur Verfügung steht. Das Geld dafür ist da, der Preisdeckel kann aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds finanziert werden. Das bestätigt ein von der IGBCE-Stiftung Arbeit und Umwelt in Auftrag gegebenes Gutachten. Eine Umlage ist weder notwendig, noch geboten. Sie hat schon beim Erneuerbare-Energien-Gesetz nicht geholfen.

Gleichzeitig müssen wir regulatorisch alles tun, um diejenigen zu unterstützen, die den klimagerechten Umbau vorantreiben sollen und wollen. Dazu gehört die mutige Förderung von Investitionen und notfalls ihre Absicherung über Bürgschaften, die Erleichterung von Abschreibungsbedingungen. Dazu gehört aber auch, der Modernisierung und dem Ausbau von Standorten, Anlagen, Pipelines, Netzen oder Kreislaufwirtschaftssystemen keine Steine in den Weg zu legen. Dazu gehört, Direktverträge zwischen Energielieferanten und Großkunden, so genannte PPA anzuschieben. Und dazu gehört, Transformation eng zusammenzudenken mit Standort- und Beschäftigungsgarantien sowie mit guten, tariflich gestalteten Arbeitsplätzen.

Wir müssen in der aktuellen kritischen Lage unsere Stärken stärken. Die energieintensiven Branchen sind eine davon. Sie sind keine Industrien von gestern, sondern von morgen. Indem wir sie jetzt unterstützen, treiben wir Strukturwandel voran anstatt ihn auszubremsen. Sie stehen am Anfang nahezu aller Wertschöpfungsprozesse und sind deshalb ein zentraler Faktor für die Transformation der Industrie. Ihren Exodus können wir uns weder gesellschaftlich, noch volkswirtschaftlich oder klimapolitisch leisten. Diesen Appell werden wir mit Nachdruck an die Politik formulieren. Wir befinden uns in einer multiplen Zeitenwende – und die fordert von uns großes Karo! Jetzt!

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