Für die Chemie-Tarifrunde hat der Hauptvorstand der IGBCE eine Forderungsempfehlung aufgestellt, die sowohl die durchwachsene wirtschaftliche Situation berücksichtigt als auch für eine nachhaltige Kaufkraftentwicklung sorgt. Welche Faktoren bei der Höhe der prozentualen Forderungsempfehlung eine Rolle gespielt haben und welches Ziel der Hauptvorstand damit verfolgt hat, erfährst du hier.
Die Forderungsempfehlung des IGBCE-Hauptvorstands nach 6 bis 7 Prozent mehr Entgelt für die Beschäftigten in der Chemie sorgt derzeit für reichlich Gesprächsstoff in den Betrieben. “Viel zu wenig”, sagen die einen, “viel zu hoch” die anderen. Der Blick darauf gleicht dem auf das sprichwörtliche Wasserglas.
Wo also kommt diese Empfehlung her? Wieso liegt sie so weit unter denen in anderen Branchen? Und wieso so weit über dem, was die Chemie-Arbeitgeber anzubieten bereit sind - nämlich nichts? Ein paar Rechenbeispiele.
Zunächst: Der Forderungskorridor berücksichtigt die wirtschaftliche Situation der Branche, die bisherigen Vergütungserhöhungen und die spezifischen Voraussetzungen in der chemisch-pharmazeutischen Industrie. Deren wirtschaftliche Situation ist derzeit so bunt wie wohl noch nie: Auf der einen Seite sind die Umsätze und die Produktivität in den vergangenen Monaten deutlich zurückgegangen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch positive Zukunftsaussichten und in manchen Bereichen kräftige Gewinner. Das allein unterscheidet die Chemie schon von vielen anderen Branchen – zumal von denen, die keine Renditen erwirtschaften müssen und nicht ins Ausland abwandern können.
Krise schon teilweise kompensiert
Doch das ist nicht der einzige Unterschied zu anderen Tarifrunden: Dort sind die Forderungen teilweise so hoch, weil sie auf einer deutlich niedrigeren Entgelt-Basis beruhen. Die Inflation hat Beschäftigte in schlecht bezahlten Branchen besonders hart getroffen. Das gilt es aufzuholen. Viele Tarifbereiche, für die hohe Forderungen aufgestellt wurden, sind zudem von unten vom Mindestlohn eingeholt worden. Um wieder darüber zu kommen, müssen die Einkommen überproportional steigen.
Das ist in der Chemieindustrie anders. Die Chemielöhne gehören im Schnitt zu den höchsten Tarifeinkommen in Deutschland. Und in den vergangenen Jahrzehnten ist der Abstand sogar noch gewachsen. Die Reallöhne, also die Löhne abzüglich aller Preissteigerungen, liegen heute in der Chemieindustrie fast ein Fünftel höher als noch im Jahr 2000 (Quelle: WSI Tarifarchiv). Über alle Tarifverträge sind es lediglich 15 Prozent.
Hinzu kommt: Im Gegensatz zu den Beschäftigten vieler anderer Branchen haben die Chemiebeschäftigten schon einen Teil der Krisenkompensation erhalten. Denn die IGBCE war eine der ersten Gewerkschaften, die die Inflationsausgleichsprämie verhandelt hat. Der zurückliegende Tarifabschluss aus dem Oktober 2022 konnte mit zweimal 3,25 Prozent Plus und insgesamt 3.000 Euro steuer- und abgabenfreier Inflationsausgleichsprämie die Preissteigerungen über die Laufzeit von 20 Monaten ausgleichen. Die IGBCE hat also bereits einen Teil der Inflation ausgeglichen. Andere Branchen müssen da viel mehr nachholen. Das macht einen großen Unterschied.
Aufschlussreich ist auch ein genauerer Blick auf die Tarifabschlüsse in anderen Industriezweigen. Bei Social Media geht es oft nur um hohe Prozentzahlen, relativierende Details wie zum Beispiel lange Laufzeiten, spielen keine Rolle. Schaut man da beim letzten Chemie-Abschluss und Abschlüssen aus vergleichbaren Branchen genauer hin, sieht man aber, dass die Gesamtpakete ähnlich waren.
Warum gerade sechs bis sieben Prozent mehr?
Und dennoch: Auch in der Chemie gibt es einen spürbaren Nachholbedarf. Das liegt daran, dass die Wirkung der Inflationsausgleichsprämie nicht nachhaltig ist. Während der Laufzeit der Tarifrunde 2022 wurden die Entgelttabellen – rechnet man den Zinseffekt ein – um insgesamt 6,6 Prozent erhöht. Im gleichen Zeitraum (1. April 2022 bis 30. Juni 2024) werden die Verbraucherpreise laut aktuellen Schätzungen um ca. 12,6 Prozent gestiegen sein. Zunächst konnten die explodierenden Preise und Kaufkraftverluste auch durch die Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 3.000 Euro ausgeglichen werden. Durch diese Einmalzahlung erlitten die Beschäftigten keinen Verlust ihrer Kaufkraft. Doch die Inflationsausgleichsprämie hilft nur kurzfristig, ihre Wirkung verpufft nach Ende der Laufzeit des Tarifvertrages.
Um zu verhindern, dass die Beschäftigten nun Kaufkraft verlieren und um den Ausgleichseffekt dieser Ausgleichsprämie tabellenwirksam sicherzustellen, müssten die Entgelttabellen um circa sechs Prozent angehoben werden. Damit wäre der Status Quo bei der Kaufkraft hergestellt. Das geforderte Plus von sechs bis sieben Prozent kompensiert also lediglich die entfallene Inflationsausgleichsprämie.
Zurück zum Optimismus
Das ist dringend notwendig. Denn zuletzt haben Zukunftspessimismus und finanzielle Sorgen auch die breite Mittelschicht unter den Beschäftigten erreicht, zu denen die meisten IGBCE-Mitglieder zählen. Das belegt eine IGBCE-Umfrage unter 3300 Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, ein Großteil von ihnen in der Chemieindustrie beschäftigt. Demnach müssen sich drei von vier Beschäftigten in den IGBCE-Branchen beim Haushaltsbudget einschränken, 55 Prozent beurteilen ihre persönliche wirtschaftliche Lage derzeit als schlechter als vor einem Jahr.
Die massiven Preissteigerungen der jüngeren Vergangenheit haben auch in der Chemie die Tariferfolge eines ganzen Jahrzehnts aufgezehrt. Längst spüren die Beschäftigten die Reallohnverluste, Pessimismus prägt das Bild. „Es braucht jetzt mehr denn je eine selbstbewusste Tarifpolitik, die den Menschen den Optimismus zurückbringt“, sagt der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis. Diesen Auftrag hat die IGBCE angenommen, mit der Forderungsempfehlung steuert sie gegen. Das tarifpolitische Ziel ist klar: Den hohen Kaufkraftverlust der vergangenen zwei Jahre nachhaltig ausgleichen. Dafür braucht es einen Tarifabschluss mit einer Erhöhung der Entgelte nah an der Forderungsempfehlung.