1991–2000

Die Welt wird kleiner

Plötzlich ist die Welt im Wohnzimmer: Internet und Mobiltelefone verändern den Alltag und die Berufswelt. Sie sind Symbole einer neuen industriellen Revolution – und bedeuten neue Herausforderungen für die Gewerkschaften, die gleichzeitig um die Betriebe und Arbeitsplätze im Osten Deutschlands kämpfen.

IG BE und IG Chemie beschließen ihre Fusion zur IG BCE

Spektakulär: IG BE und IG Chemie beschließen ihre Fusion

Foto: © IG BCE

Im Osten Deutschlands wachsen die Sorgen. Viele Firmen sind nicht mehr wettbewerbsfähig, sie verschwinden von heute auf morgen. Viele Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern fürchten um ihre Arbeitsplätze. Zu Recht, denn die Arbeitslosigkeit steigt rasant. Eine Herausforderung für die Gewerkschaften: Wo immer es geht, kämpfen sie um Betriebe und Arbeitsplätze. Die IG Bergbau und Energie (IG BE) etwa hilft über Sanierungsgesellschaften Menschen in Arbeit zu halten. Die IG Chemie macht sich für den Erhalt der industriellen Kerne stark und steht Pate bei der Gründung des Qualifizierungsförderwerks Chemie (QFC) sowie der Stiftung Arbeit und Umwelt, beide mit Arbeitsschwerpunkt in den neuen Ländern.

Durch Fusion zukunftsfähig bleiben

Doch die Gewerkschaften müssen sich noch ganz anderen Herausforderungen und Problemen stellen: Ihre Strukturen stammen aus den 1950er-Jahren. Wirtschaft und Gesellschaft haben sich seitdem aber weiterentwickelt. Branchengrenzen verwischen, die traditionellen Industrien schrumpfen, neue Wirtschaftszweige entstehen. Neue Technologien halten Einzug, Rationalisierung und Arbeitsplatzabbau erfordern ein Umdenken und neue Antworten. Unter den Arbeitnehmern gibt es immer mehr Angestellte und Dienstleistungsjobs, gleichzeitig immer weniger Arbeiter. Was muss die Gewerkschaft also tun, um weiterhin zukunfts- und durchsetzungsfähig zu bleiben sowie eine gestaltende Rolle zu spielen? Die Antwort, die IG BE und IG Chemie zum Jahreswechsel 1991/92 geben und denen sich die Gewerkschaft Leder anschließt, ist spektakulär. Die drei Gewerkschaften fusionieren, um gemeinsam stärker zu werden. Im Sommer 1993 unterzeichnen sie ein Kooperationsabkommen. Darin heißt es: „Die Schaffung einer neuen gemeinsamen Organisation dient dem Ziel, die vorhandenen Kräfte zu bündeln, die Stärke der Organisationen zu sichern und die Durchsetzungsfähigkeit im Interesse der Mitglieder zu verbessern.“ Die neue IG BCE setzt Zeichen. Hubertus Schmoldt wird auf dem Gründungskongress der neuen Gewerkschaft im Oktober 1997 zum ersten gemeinsamen Vorsitzenden gewählt. Andere Gewerkschaften machen die Fusion nach. So werden aus 17 Gewerkschaften im DGB 8.

Tarifpolitische Innovationen

Diese neue gemeinsame Kraft ist bitter notwendig. Viele sozialpolitische Erfolge der vergangenen Jahre geraten in Gefahr. Der Bundestag beschließt 1996 ein Paket, das die Lohnfortzahlung für Arbeitnehmer im Krankheitsfall kürzt und den Kündigungsschutz erst in Betrieben ab 10 Beschäftigten wirksam werden lässt. Damit soll für die Unternehmen Arbeit billiger werden. Die Reaktion der Gewerkschaften lässt nicht lange auf sich warten. Sie rufen ihre Mitglieder auf, dagegen zu demonstrieren. Auf sieben Demonstrationen gehen insgesamt 600.000 Menschen auf die Straße, darunter 350.000 allein in Bonn. Stärke ist auch unter den Bergleuten gefragt. Denn die Bundesregierung rüttelt wieder einmal an bestehenden Vereinbarungen und gefährdet so 60.000 der noch bestehenden 85.000 Arbeitsplätze im Steinkohlenbergbau. Die IG BCE organisiert am 14. Februar 1997 das „Band der Solidarität“ – eine 93 Kilometer lange Menschenkette quer durch das Ruhrgebiet. 200.000 Menschen beteiligen sich und sorgen so für einen Kompromiss, der betriebsbedingte Kündigungen ausschließt.

Doch das Gespenst der Arbeitslosigkeit geistert weiter durch die Bundesrepublik Deutschland: Die Zahl der Arbeitslosen steigt bis Februar 1997 auf 4,67 Millionen. Um einen weiteren Anstieg zu verhindern, wird im Juni 1997 mit den Arbeitgebern in der Chemie ein neuer Tarifvertrag abgeschlossen. Er sieht einen befristeten Entgeltkorridor für die Beschäftigten vor und darf nur dann angewendet werden, wenn das Unternehmen gleichzeitig betriebsbedingte Kündigungen ausschließt und Investitionen zur Sicherung des Standorts zusagt. Damit beweist die neue IG BCE ihre tarifpolitische Innovationskraft: Seit Mai 1998 gibt es einen Tarifvertrag zur Altersvorsorge. Er bietet die Möglichkeit, Entgeltbestandteile für die persönliche Altersvorsorge zu verwenden. Eine Maßnahme, die für die Zeit und für die Branche sehr innovativ ist.

2001–2015: Die Zeiten ändern sich