Krieg in der Ukraine

„Wir wissen nicht, wie lange der Krieg noch dauert“

Vor einem halben Jahr, am frühen Morgen des 24. Februar, griff Russland die Ukraine an. Millionen Menschen sind seitdem auf der Flucht – und manche wieder in die weiterhin umkämpfte Heimat zurückgekehrt. Kompakt hat zum zweiten Mal mit Menschen gesprochen, die Geflohene unterstützen. Eine  Bestandsaufnahme.

Lyudmyla im März im Kreis ihrer Verwandten

Alte Zeiten: Lyudmyla im März im Kreis ihrer Verwandten. Ihre Cousinen Liesa und Iryna wollen sich ein Leben in Deutschland aufbauen, Olga ist mit ihren Söhnen zurückgegangen nach Irpin.

Foto: © Kai-Uwe Knoth

Vier Gäste hat Lyudmyla Volynets aktuell in ihrer Wohnung untergebracht. Die gebürtige Ukrainerin, die seit mehr als 15 Jahren in Deutschland lebt und in der Hauptverwaltung der IGBCE als Fachsekretärin in der Abteilung Gute Arbeit und Betriebspolitik tätig ist, hat seit Beginn des russischen Angriffskriegs mehr als zwei Dutzend Angehörigen bei der Flucht geholfen und sie beim Neustart in Hannover unterstützt.
„Vieles hat sich geändert“, berichtet die 40-Jährige, die mit ihrem Mann in ihrer Wohnung in Herrenhausen wohnt – zeitweise mit bis zu neun Geflohenen. Bereits seit Anfang März lebt ihre Cousine Liesa (21) bei ihr. Doch die wird bald umziehen, in eine kleine eigene Wohnung in Hildesheim. „Für sieben Familien haben wir mittlerweile eigene Wohnungen gefunden – alle über Kontakte und Netzwerke, auf dem freien Markt gab es nichts“, erzählt sie. Anfang März hatte KOMPAKT Lyudmyla Volynets schon einmal besucht, damals wohnten neben Liesa noch zwei weitere Cousinen und deren zwei Söhne bei ihr. Es war direkt nach Ausbruch des Krieges. Die Verzweiflung war sehr groß – und auch die Frage, wie es weitergehen soll.
Diese Frage hat sich  zumindest teilweise beantwortet. Liesa, die 21-Jährige, habe sich ein kleines Netzwerk von Freund*innen und Bekannten in ihrem Alter aufgebaut. „Sie will jetzt in Hildesheim einen Integrationskurs besuchen und sich dann neu orientieren“, berichtet Lyudmyla Volynets. Liesa, die in Kiew Internationale Beziehungen studierte, habe zwar noch starkes Heimweh, wolle sich aber hier in Deutschland ein neues Leben aufbauen.
„Richtig angekommen“ ist ihre Cousine Iryna, die bereits in einer eigenen Wohnung wohnt, einen Integrationskurs besucht und fleißig Deutsch lernt. „Sie hat tolle Fortschritte gemacht und ist gut qualifiziert. Sie ist Schiffbauingenieurin und Buchhalterin. Wenn sie mit ihrem Kurs fertig ist, wird sie sich einen Job suchen. Sie sieht ihre Perspektive hier in Deutschland“, erzählt Lyudmyla Volynets.
Auch ihre Cousine Olga (43) und deren Söhne Alex (15) und Yarik (5) aus Irpin waren bereits in eine eigene Wohnung umgezogen. Doch vor einigen Wochen sind sie zurück gegangen in die Heimat -  Irpin ist wieder in ukrainischer Hand. Das Haus, in dem Olga und ihre Kinder gelebt hätten, sei zwar durch den Beschuss schwer beschädigt, aber die alte Wohnung in der Heimat immerhin bewohnbar. „Sie wollte zurück, auch wegen ihrer Jungs.“ Alex sei sehr froh, dass er zurück in seiner gewohnten Umgebung sei, seine Freunde wieder treffen könne. 
Zurück in die Heimat gegangen sind auch Olena Liung und ihre Mutter Lyuba, Lyudmyla hatte ihre Bekannten vorübergehend bei einem Kollegen der IGBCE in der Region Hannover untergebracht. Doch Olena, die für eine ukrainische Gewerkschaft arbeitet, zog es zurück nach Kiew, wo sie wieder ihre Arbeit für einen ukrainischen Gewerkschaftsvorsitzenden fortsetzt. „Olena ist sehr heimatverbunden, es hat sie zurückgezogen. Sie fühlte sich schlecht, weil so viele vor Ort geblieben sind, sie wollte auch zurück“, sagt Lyudmyla Volynets. In ihrer Wohnung in Kiew hat die 45-Jährige zeitweise selbst Geflohene aufgenommen, die der Krieg aus ihrer Heimat vertrieben hat. 
In Kiew, so hat es Lyudmyla Volynets auch von ihrem Bruder gehört, laufe das Leben mittlerweile einigermaßen „normal“ weiter. „Die Leute gehen wieder normal zur Arbeit, an die Sirenen und den Alarm hat man sich gewöhnt“, erzählt sie. Die Gewerkschaftssekretärin unterstützt ihre Angehörigen und Bekannten immer noch nach Kräften. Sie versucht vor allem, sie selbstständig zu machen. „Ich helfe ihnen bei allem, aber ich motiviere sie mehr dazu, die Dinge selbst zu machen und Verantwortung zu übernehmen.“ In den letzten sechs Monaten hat sie viel Kraft aufgebracht, um ihren Angehörigen und Bekannten beizustehen, Kleidung und Wohnungen organisieren, bei Behördengängen begleitet – fast alle waren nur mit einem Notgepäck in Deutschland angekommen. Das Engagement kostete Kraft. In ihrer Wohnung bleiben werden für länger noch ihre Schwägerin und deren kleines Kind. „Das ist auch richtig so, das ist meine direkte Familie“, sagt Lyudmyla Volynets. Ihr Bruder arbeitet derzeit in Kiew. „Aber wir wissen nicht, wie lange der Krieg noch dauert und wie es danach weitergeht. Deshalb finde ich es wichtig, dass meine Schwägerin mit dem Kind bei mir ist.“ 
Der Krieg spielt dennoch weiter eine große Rolle: Ihre Eltern und beide Brüder sind noch in der Ukraine, weiterhin verfolgt Lyudmyla genau, wo welche Angriffe passieren, wo die Frontlinie verläuft. „Der Krieg kann noch Jahre dauern. Internationale Solidarität mit der Ukraine wäre weiterhin wichtig.“ Aktuell würden die Menschen in Deutschland und im Rest Europas aber mit weiteren Herausforderungen konfrontiert, die sie direkt berühren, etwa den hohen Gaspreisen und der massiven Inflation. Das könne dazu führen, dass der Krieg in der Ukraine mehr und mehr in den Hintergrund gerate. Sie fürchte, dass Einsatz und Unterstützung für das Land nachlassen könnten, so Lyudmyla Volnyets. „Die wichtige Frage aber bleibt: Was sind wir bereit zu tun für unsere Freiheit?“ 
 

Weitere Informationen

Die meisten Geflohenen aus der Ukraine kommen nur mit Notgepäck an. 
Foto: © Kai-Uwe Knoth
Krieg in der Ukraine
Nichts als Notgepäck

Am 24. Februar befahl Russlands Präsident Wladimir Putin den Angriff auf das Nachbarland Ukraine. Seitdem sind Millionen Menschen auf der Flucht — auch nach Deutschland. Eine Welle der Hilfsbereitschaft ist angesichts des Krieges angerollt, auch viele IGBCE-Mitglieder bieten Unterstützung und ein Dach über dem Kopf für Vertriebene.

Frieden für die Ukraine
Foto: © iStockphoto/kovop58
Krieg in der Ukraine

Die IGBCE verurteilt den russischen Einmarsch in der Ukraine auf das Schärfste. Unsere volle Solidarität gilt den Menschen in der Ukraine, die grundlos zu Opfern eines Angriffskriegs werden.