Europawahlen am 9. Juni

Protestwahl ist überhaupt keine gute Idee!

Seit Anfang Februar leitet der Politikwissenschaftler Andreas Bodemer das neue IGBCE-Büro in Brüssel. Er steht damit im Zentrum des Ringens um eine europäische Politik, die auch die Interessen der Beschäftigten in den Branchen der IGBCE im Blick hat. Im Interview macht er deutlich, wie sehr die Wählerinnen und Wähler insbesondere in Deutschland darüber entscheiden, wie arbeitnehmerfreundlich das neue EU-Parlament sein wird.


Europa Andreas Bodemer

Andreas Bodemer, Leiter des IGBCE-Büros in Brüssel

Foto: © IGBCE

Lieber Andreas, die IGBCE hat ganz neu ein eigenes Büro in Brüssel eröffnet. Welche Vorteile bietet das – und wie war die Situation zuvor? Reiste man von Hannover aus für Gespräche an?

Meine Kolleginnen und Kollegen aus der Abteilung Politik und Internationales der IGBCE waren immer sehr präsent hier in Brüssel, mit hoher Kompetenz und großem Einsatz. Und ja, sie reisten immer extra an. Natürlich sind das jetzt ganz andere Voraussetzungen für die politische Arbeit, wenn ich ständig vor Ort bin und Termine mit Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern machen kann. Industriepolitisch bin ich in Brüssel gut vernetzt, da ich zehn Jahre für die IG Metall auf europäischer Ebene gearbeitet habe. Die Revision des Emissionshandelssystems für CO2-Zertifikate war eines der Themen, um das ich mich intensiv gekümmert habe. Wir haben erreicht, dass die Zuteilung freier Zertifikate sehr langsam ausläuft – zum Vorteil der energieintensiven Industrien, deren Wettbewerbsfähigkeit an vielen Stellen in Gefahr ist.

An welchen Themen arbeitest Du zurzeit?

Zurzeit stehen die Europawahlen ganz oben auf der Agenda. Die Legislatur geht zu Ende, die letzten großen Gesetzesvorhaben werden im Europäischen Parlament abgestimmt, erst kürzlich zum Beispiel das Lieferkettengesetz oder das weltweit erste, umfassende Gesetz zur Regulierung von Künstlicher Intelligenz. Meine Aufgabe wird es in Zukunft sein, bei Gesetzesvorhaben die Interessen der Mitglieder der IGBCE zu vertreten und frühzeitig in die Prozesse einzugreifen, also im besten Fall, bevor ein Entwurf auf dem Tisch liegt.

Man muss dazu wissen, dass die Schlagzahl und die Geschwindigkeit im Europäischen Parlament und in der Europäischen Kommission viel höher sind als in Deutschland. Um wirklich frühzeitig eingreifen zu können, muss man vor Ort sein – ansonsten reagiert man nur.

Siehst Du die Europäische Union für gute Arbeitsbedingungen und Mitbestimmung eher als Hemmschuh oder als Türöffner?

Weder noch, denn es kommt auf die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament an. Wir erleben das gerade bei der Novelle der Europäischen-Betriebsräte-Richtlinie, auf welche die Gewerkschaften lange hingearbeitet haben. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Informationsrechte der Europäischen Betriebsräte bei länderübergreifenden Managemententscheidungen gestärkt werden und es bei Verstößen empfindliche Strafen für die Unternehmen gibt. Insbesondere die mächtige Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) läuft dagegen Sturm.

Umso wichtiger ist es, dass auch die Gewerkschaften gut aufgestellt sind und starke Netzwerke haben. Einer der Treiber für die Novelle der Europäischen-Betriebsräte-Richtlinie ist im Übrigen der EU-Parlamentarier Dennis Radtke, der zuvor IGBCE-Bezirksleiter in Moers war und auch stellvertretender Bundesvorsitzender der CDA Deutschlands ist, also der gesellschaftspolitischen Vereinigung innerhalb der CDU.

Die IGBCE hat eine Agenda mit 12 Forderungen für eine smarte Transformation der Industrie aufgestellt. Gleich die erste Forderung ist ein europäischer Transformationsfonds, um den Umbau bestehender und den Aufbau neuer Standorte zu finanzieren. Wie kann so ein Fonds auf den Weg gebracht werden?

Das ist ein sehr großes Projekt, bei dem die IGBCE als starke Organisation gefordert ist. Der Vorschlag muss aus der Politik eingebracht werden. Die Aufgabe der IGBCE ist es, die eigenen Argumente so auszuspielen, dass bei den Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern die Bedeutung eines europäischen Transformationsfonds klar wird.

Mein eigenes Alltagsgeschäft sieht eher unspektakulärer aus, ist mehr das Konkrete im Kleinen, der Aufbau von Vertrauensverhältnissen und einer guten Zusammenarbeit in das EU-Parlament hinein.

Die IGBCE fordert eine staatliche Unterstützung für Betriebe in der Transformation hin zu einer klimaneutralen Produktion und will als Gegenleistung von den Unternehmen Standortsicherheit und Tarifbindung. Welche Rolle kann dabei die Europäische Union spielen?

Die Europäische Union ist historisch und auch heute in erster Linie ein Binnenmarkt – und die ureigene Aufgabe der EU-Kommission ist es, Wettbewerbsgleichheit herzustellen. Subventionen sind deshalb immer ein umstrittener Punkt. Es gibt aber Ausnahmen, und die sind mittlerweile für Maßnahmen, die der Nachhaltigkeit dienen, sehr ausgeweitet. Bei Forderungen wie Standortsicherheit und Tarifbindung ist der gangbare Weg, sie in den industriepolitischen Gesetzen, die auf die Agenda kommen, zu verankern. Das ist in der Vergangenheit nicht gut gelungen. Jüngste Beispiele sind die Netto-Null-Industrie-Verordnung und das Gesetz über kritische Rohstoffe. Da müssen wir eindeutig stärker werden. Deshalb sind die Europawahlen so zentral.

Wie können die Beschäftigten dafür sorgen, dass ihre Interessen in Europa stärker durchdringen?

Die EU ist nicht eine Black Box, sondern im Europäischen Parlament sitzen gewählte Vertreterinnen und Vertreter, die über Gesetze entscheiden. Wir müssen dort eine progressive Mehrheit haben, die eine Politik im Interesse der Beschäftigten macht. Deutschland ist das bevölkerungsreichste Land in Europa. Die Menschen in Deutschland haben einen großen, wenn nicht entscheidenden Anteil daran, wie sich das neue EU-Parlament zusammensetzt. Eine beschäftigtenfreundliche Politik wird es in den nächsten fünf Jahren nur geben, wenn wir es schaffen, genug Abgeordnete im Europäischen Parlament zu haben, die uns und die gewerkschaftlichen Positionen unterstützen. Protestwahl ist keine gute Idee!

Das Interview führte Susanne Schneider-Kettelför.


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