5. Forum Arbeitspolitik

Herrscher sein über die eigene Arbeitszeit

Arbeitszeitsouveränität – das sagt so viel mehr als eine bloße Fokussierung auf flexible Arbeitszeiten. Doch wie werde ich Herr meiner Zeit im Betrieb? Über Grenzen und Möglichkeiten diskutierten jetzt über 100 Teilnehmer beim 5. Forum Arbeitspolitik in Bad Münder.

5. Forum Arbeitspolitik

Gut 100 Teilnehmer diskutierten in Bad Münder über Arbeitszeitsouveränität.

Foto: © Christian Burkert

Für die Gewerkschaften ist Arbeitszeit ein Jahrhundertthema, das mit der Einführung des Acht-Stunden-Tages 1918 einen ersten wichtigen Höhepunkt erreichte. Seither pflügten sich Arbeitnehmer- wie Arbeitgebervertreter durch Fragen, aufgeworfen von Wirtschaftswunder, Massenarbeitslosigkeit, Globalisierung, Automatisierung und schließlich Industrie 4.0. Und da sind die Fragen, die angesichts gesellschaftlicher Prozesse aufkamen: Wie wollen wir leben und unser Privat- wie Familienleben mit dem Beruf vereinbaren? Von „entgrenzter Arbeit“ ist heute die Rede, wenn die Digitalisierung es ermöglicht, dass jederzeit an beinahe jedem Ort gearbeitet werden kann. Was Arbeitgeber als verführerische Möglichkeit ansehen, kann für Beschäftigte zum Problem werden. 

Technik oder Urgewalt?

„Digitalisierung ist keine neue Urgewalt, sondern einfach neue Technologie“, sagt Prof. Nicole Mayer-Ahuja, Direktorin des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen und Arbeitsmarktforscherin. Anders als noch vor Jahrzehnten befürchtet, seien Betriebe heute keine menschenleere Orte. Viel eher tobe heute an anderer Stelle ein Konflikt: Auf der einen Seite wollen Arbeitgeber einen möglichst flexiblen Zugriff auf die Beschäftigten. Und die Beschäftigten wiederum pochen auf Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf. Der DGB-Index „Gute Arbeit 2017“ zeigte indes, dass sich 41 Prozent der Befragten zu erschöpft fühlten, um sich nach dem Job noch viele Gedanken um Freizeitgestaltung und Hobbies machen zu können. „Der gewerkschaftliche Kampf um Arbeitszeitsouveränität bleibt zentral“, bilanziert Mayer-Ahuja. Es sei wichtig, dass Gewerkschaften wie die IG BCE über wählbare Optionen diskutierten. Mit anderen Worten: Es geht um Arbeitszeitmodelle, die in der Praxis in Voll- wie in Teilzeit und im Schichtsystem funktionieren.

Prof. Nicole Mayer-Ahuja, Direktorin des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen.

Prof. Nicole Mayer-Ahuja, Direktorin des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen.

Foto: © Christian Burkert

Stichwort Schichtarbeit: Wie solle es einem Einzelnen möglich sein, 30 oder 40 Jahre Schichtarbeit zu leisten und dann mit 67 Jahren „gesund und munter in die Rente zu gehen?“, fragte Francesco Grioli vom geschäftsführenden Hauptvorstand der IG BCE. Die Arbeitszeitpolitik werde sich auch in Zukunft um die Situation der Schichtarbeitenden drehen, um sie zu entlasten. Aber auch im Bereich der Digitalisierung könne die IG BCE viele offene Fragen beantworten, betonte Grioli. „Mit Zeitsouveränität.“

Es gibt viele Anlässe, darüber nachzudenken. Ein wichtiger ist die kommende Chemie-Tarifrunde in diesem Jahr. Die IG BCE arbeitet an der „Roadmap 4.0“, um den digitalen Wandel in den Betrieben zu gestalten. Auch mit dem Fokus auf mehr Selbstbestimmung in der Arbeitszeit. Gegenwärtig bestehen viele Modelle. Das Potsdamer Modell ist eines davon; mit ihm können unter anderem betriebliche wöchentliche Arbeitszeiten im Korridor von 32 bis 40 Stunden festgelegt werden. Überhaupt sind Korridor-Lösungen ein Schwerpunkt der Arbeitszeitpolitik. Die IG BCE setzt zudem auf Lebensarbeitszeit und auf lebensphasenorientierte Arbeitszeit. Kurz: Wer mehr Zeit für Familie oder Pflege braucht, soll sie bekommen.

Knackpunkt Praxis

In der Praxis tun sich seit jeher große Hürden auf. Zum Beispiel, wenn es nicht nur um saisonale, sondern um krisenbedingte Auftragsschwankungen geht. „Nur wenige Unternehmen bereiten sich darauf vor“, stellte Stefan Gerlach vom Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation fest. Mögliche Folgen sind Arbeitszeitkonten mit dreistelligen Minusbeträgen – eine Katastrophe für jeden Beschäftigten. Flexi-Konten beispielsweise, die in guten Zeiten aufgebaut werden, könnten das Problem abfedern. Allerdings sei dieses Modell nicht eben individuell anwendbar, befand das Publikum. Stimmt, räumte Gerlach ein. Aber welches Modell auch angewandt werde, Betriebe seien gut beraten, sich auf Krisen vorzubereiten.



Kritische Beispiele haben viele Teilnehmende zu vermelden: Mehrarbeit wird durch Leiharbeit aufgefangen und nicht etwa durch Neueinstellungen. Für Krisenzeiten gibt es keine Rücklagen, weil die Eigner „überflüssiges“ Kapital aus den Unternehmen abziehen. Oder es wird offen mit Standortschließungen gedroht, wenn eine Belegschaft nicht die gewünschte Leistung zeige. Auch angesichts solcher Herausforderungen betont Eveline Wengler (Betriebsrätin, Bayer Leverkusen): „Wir brauchen eine ganz eigene Sicht und eine starke Positionierung gegenüber den Arbeitgebern.“