Betriebsrätekonferenz der Reifenwerke: In der „Kasseler Erklärung“ fordern Betriebsrät*innen der großen Reifenhersteller die Unternehmen und die Politik auf, die Rahmenbedinungen für eine zukunftsweisende Reifenproduktion in Deutschland zu schaffen.
Sie sind zusammengekommen, weil es um den Erhalt ihrer Branche geht: Rund 40 Betriebsrätinnen und Betriebsräte der großen Reifenhersteller haben sich am 7. und 8. März in Kassel zur Betriebsrätekonferenz der Reifenwerke getroffen. Vertreten waren Goodyear, Michelin, Pirelli und Continental. Bei der Konferenz verabschiedeten die Versammelten die „Kasseler Erklärung“ gegen einen Kahlschlag in der Reifenindustrie. Ihre Botschaft: Mit Reifen Made in Germany lässt sich bis heute gutes Geld verdienen, hier gibt es die nötigen Fachkräfte und das nötige Know-how. Politik und Unternehmen müssen dafür allerdings bestimmte Voraussetzungen schaffen.
Die Stimmung bei dem Treffen war aufgeladen durch die Ereignisse der vergangenen Monate. Bei Goodyear und bei Michelin haben die Arbeitgeber massiven Personalabbau angekündigt, mehrere Standorte sind in ihrer Existenz akut bedroht. Etwa das Werk von Goodyear in Fulda, wo die Abwicklung nahezu unausweichlich scheint. Eine Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung zeigt aber auch: In Deutschland werden profitabel Reifen produziert. Die Produktionskosten sind zwar in den vergangenen Jahren gestiegen, die Unternehmen konnten die Kosten aber weitgehend an ihre Kunden weitergeben. Personalabbau und Schließungen sind daher nach Einschätzung der IGBCE und externer Berater nicht notwendig, sondern strategische Entscheidungen der Unternehmen.
Zu Beginn der Konferenz wandte sich Francesco Grioli, Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstands der IGBCE, an die Versammelten. „Wir wollen, dass Reifen ein Hochtechnologie- und Zukunftsprodukt des Industriestandorts Deutschland bleiben“, sagte er. „Wir sollten unsere Standortvorteile nicht leichtfertig aufgeben und Wissen, Erfahrung und Können zum Fenster rauswerfen.“ Die Pläne der Unternehmen, vier der noch zwölf bestehenden Reifenwerke in Deutschland in den kommenden Jahren komplett sowie eines teilweise zu schließen und insgesamt 3.300 Stellen abzubauen, bezeichnete er als „völlig überzogene Reaktion und nur schwer nachvollziehbareren Schritt“.
Bei der Konferenz tauschten sich die Versammelten über Strategien aus, die sie für die Verhandlungen mit den Unternehmen hatten. Betriebsräte und externe Betriebsrats-Berater berichteten von ihren Erfahrungen. Die Versammelten diskutierten intensiv die Vor- und Nachteile verschiedener Handlungsoptionen. Welche Möglichkeiten beispielsweise die Übernahme eines Werks durch einen neuen Eigentümer bietet – und wann dies ein gangbarer Weg ist. Sie sprachen darüber, wie sich die Macht von Betriebsrat und Gewerkschaft gegenüber dem Arbeitgeber am besten einsetzen lässt, welche Möglichkeiten es zum Beispiel bietet, einen Sozialtarifvertrag zu verhandeln.
Einig waren sich die Betriebsräte darüber, wie wichtig Zusammenhalt ist – sowohl zwischen Beschäftigten, Betriebsrat und IGBCE als auch zwischen den verschiedenen Standorten eines Unternehmens. Bei Goodyear etwa sei das gemeinsame Auftreten entscheidend für eine Einigung mit dem Unternehmen gewesen, berichtete die Gesamtbetriebsratsvorsitzende Ines Sauer.
Stephan Kraft von der Beratungsfirma EIC-Partner stellte die im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung entstandene Studie vor. Die Umsätze der Reifenindustrie in Deutschland waren im Jahr 2017 auf einem Höchststand und haben sich nach einem durch die Corona-Pandemie bedingten Einbruch im Jahr 2020 wieder leicht erhöht. Demgegenüber ist die Zahl der Beschäftigten weiter gesunken. Es werden weniger Reifen produziert als noch vor einigen Jahren. Die Erzeugerpreise sind in den vergangenen Jahren gestiegen, mit einem starken Anstieg durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Die Preise für die fertigen Reifen sind aber auch gestiegen, so dass der Gewinn, der mit einem Reifen gemacht wird, prozentual nur leicht gefallen ist. Die Studie betrachtet auch die Entwicklung des weltweiten Reifenmarkts und verbundener Industrien. Hieraus ergeben sich Chancen und Risiken für die Branche. Die Studie kommt unter anderem zu dem Schluss, dass es der Reifenindustrie in Deutschland gelingt, profitabel zu wirtschaften. Wenn sie ihre Stärken nutzt – zu denen Forschung und Entwicklung gehören – kann sie bestehen. Dafür braucht sie nach Aussage der Forscher aber Unterstützung: von der Politik, durch die Unternehmen und aus den Mitbestimmungsgremien.
Grundsätzlich liegt die Stärke der deutschen Hersteller bei technologisch hochwertigen Reifen im Premiumsegment. Hier können sie gute Margen verdienen. Ruinös hingegen kann der Wettbewerb im Billig-Segment sein. Hier drängen zum Beispiel LKW-Reifen auf den Markt, die zu Preisen verkauft werden, die nach Einschätzung der IGBCE nicht gewinnbringend sein können. Gleichzeitig ist mit diesen Reifen ein großes Problem verbunden: Sie eignen sich oft nicht für die Runderneuerung, ein bei LKW-Reifen gängiges Verfahren. Damit wird wesentlich mehr schwer zu entsorgender Müll produziert, als nötig. Gerade hier ist Unterstützung aus der Politik erforderlich, die mit Anti-Dumping-Maßnahmen und Vorgaben zur Nachhaltigkeit eingreifen kann.
Konkret fordern die Betriebsräte in der Kasseler Erklärung von der Politik, die Anti-Dumping-Maßnahmen gegen chinesische LKW-Reifen zu verlängern und die Umgehung durch den Import über Drittländer auszuschließen. Investitionsprogramme sollen die Entwicklung neuer Reifengenerationen am Standort Deutschland fördern, und die Unternehmen sollen die Möglichkeit bekommen, Strom aus regenerativen Quellen zu wettbewerbsfähigen Preisen zu beziehen. Außerdem nahmen die Versammelten die Forderung auf, gesetzlich gegen die Schließung profitabler Standorte vorzugehen, vergleichbar mit ähnlichen Regelungen in Frankreich.
Von den Unternehmen erwarten IGBCE und Betriebsrät*innen Investitionen in die ökologische und ökonomische Wettbewerbsfähigkeit, also in die Forschung und in die Modernisierung der Anlagen sowie die Umrüstung auf erneuerbare Energiequellen. Gefordert wird in der „Kasseler Erklärung“ außerdem eine noch engere Zusammenarbeit mit den deutschen PKW- und LKW-Produktionsstandorten, um Effizienzpotenziale voll auszuschöpfen. Sinnvoll sei auch eine noch engere Verzahnung der Forschungsabteilungen der Erstausrüster (OEMs) mit denen der Reifenherstellers. Die Nähe des Goodyear-Werkes in Fürstenwalde zum neuen Tesla-Werk sei beispielsweise eine ideale Option für eine effiziente Just-in-Time-Belieferung.