Der russische Angriff auf die Ukraine hat die Sicherheitsarchitektur Europas zerstört und die Inflation in neue Höhen getrieben. Der Krieg macht es unabdingbar, dass sich Europa und Deutschland wirtschafts-, energie- und verteidigungspolitisch neu aufstellen.
Vor mehr als drei Monaten startete Russland seinen völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine. Mit diesem barbarischen Angriffskrieg hat der russische Präsident Wladimir Putin Europa sicherheitspolitisch aber auch wirtschaftlich radikal verändert. Wir erleben eine Zeitenwende, in der viele bisherige Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt sind. Dieser Krieg stellt einen beispiellosen Angriff auf die europäische Friedensordnung dar, die auf Freiheit, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie basiert. Die Folge ist nicht nur unendliches menschliches Leid, Flucht, Vertreibung und Tod. Dieser Krieg macht es unabdingbar, dass sich Europa und auch Deutschland wirtschafts-, energie- und verteidigungspolitisch neu aufstellen.
Diese Notwendigkeit fordert uns heraus: Die deutsche Wirtschaft – und vor allem unsere energieintensiven Branchen wie die Chemie, die Glas-, Keramik- oder Zementindustrie – stecken ohnehin mittendrin im größten Transformationsprozess seit Beginn der Industrialisierung. Die sozial gerechte, ökologisch und ökonomisch ausgewogene Dekarbonisierung der Volkswirtschaft, die Umstellung der Produktionsprozesse auf emissionsfreie Energieträger ist an sich schon eine Generationsaufgabe.
Der russische Krieg gegen die Ukraine erhöht nun zum einen den Druck, kurzfristig die Abhängigkeit von den russischen Gas- und Öllieferungen zu reduzieren und mittelfristig insgesamt unabhängiger von fossilen Energieträgern wie Gas oder Öl zu werden. Zugleich sind in Folge dieses völkerrechtwidrigen Angriffs die Energiepreise massiv gestiegen. Experten gehen davon aus, dass die Inflation, die zuletzt bei rund sieben Prozent lag, fast zur Hälfe auf die Energie-Preisexplosion zurückzuführen ist. Unsere Mitglieder merken das bei jedem Einkauf an der Supermarktkasse, an der Tankstelle, bei ihren Heizkostenabrechnungen – von ihrem hart verdienten Geld können sie sich immer weniger leisten. Auch viele Unternehmen in unseren Branchen sind belastet durch die Preisspirale, die volatile Wirtschaftslage, die brüchig gewordenen Lieferketten. Produktionsausfälle drohen. Laut einer IGBCE-Umfrage unter rund 1700 Gewerkschaftsmitgliedern fürchten 57 Prozent, dass die Entwicklung der Energiepreise und ein mögliches Gasembargo zu Jobverlusten in der Industrie führen werden. Rund ein Drittel sieht eine große oder sehr große Gefahr, dass im eigenen Betrieb Stellen gestrichen werden.
Das es tatsächlich so weit kommt, dürfen und werden wir als IGBCE nicht hinnehmen. Wir beobachten die Lage sehr genau und versuchen auf allen Ebenen, auch über unsere politischen Kanäle in Berlin, die Situation für unsere Beschäftigten zu sichern und zu verbessern. So ist es uns beispielsweise mit unserem Zwischenergebnis in der Chemie-Tarifrunde im April gelungen, mit einer Einmalzahlung in Höhe von 1400 Euro eine Brücke über das Tal der wirtschaftlichen Unsicherheit zu bauen, die die Belegschaften kurzfristig finanziell entlastet und die Unternehmen nicht überfordert. Wir haben mit diesem ausgewogenen und klugen Kompromiss Inflationslinderung mit Beschäftigungssicherung verbunden. Klar ist aber auch: Dabei kann es nicht bleiben, im Oktober gehen die Tarifverhandlungen für die 580.000 Beschäftigten der Branche weiter. Wir wollen, dass nicht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentner*innen und sozial Schwachen die Hauptlast der Inflation tragen müssen.
Bereits vor Wochen haben wir als IGBCE einen Energiepreisgipfel gefordert, um koordiniert und mit möglichst vielen Beteiligten den aktuellen Entwicklungen entgegenwirken zu können. Bundeskanzler Olaf Scholz hat diesen Vorschlag aufgenommen und die Sozialpartner sowohl zu einer Transformations-Allianz als auch zu einer konzertierten Aktion zusammengerufen, um über die Transformationsgestaltung, die Preisentwicklung und Entlastungsmöglichkeiten zu diskutieren. Ein erstes Treffen der Transformations-Allianz hat kürzlich stattgefunden, ein Termin für die konzertierte Aktion soll noch vor der Sommerpause gefunden werden. Wir werden konstruktiv dabei mithelfen, die Inflation zu bekämpfen, denn die Menschen in unserem Land brauchen dringend Entlastung. Gut wäre ein gesamtgesellschaftliches Bollwerk gegen die Inflationswelle. Da sind neben der Europäischen Zentralbank, der Bundesregierung und den Tarifpartnern auch die Unternehmen gefragt. Denn sie sind es, die die Inflation derzeit stark bestimmen. In solchen Krisen müssen wir Sozialpartner zusammen an Lösungen arbeiten. Das ist der richtige Weg. Dass wir in der Lage sind, einen vernünftigen, pragmatischen Weg zu finden, haben wir in der Vergangenheit schon mehrfach bewiesen. Ich will aber auch gleich klarstellen: Das werden keine verkappten Tarifverhandlungen.
Auch mit der Abschaffung der EEG-Umlage, der der Erhöhung der Pendlerpauschale und dem Heizkostenzuschuss für sozial Schwächere hat die Regierung unsere Vorschläge aufgegriffen und kluge Entscheidungen getroffen. Doch das kann nicht alles sein: Vor dem Hintergrund der sich weiter verschärfenden ökonomischen Verwerfungen ist die Bundesregierung in der doppelten Verantwortung, konkrete Maßnahmen zur Energieversorgungssicherheit und zur Bezahlbarkeit der Energie sowie zur Beschleunigung der Transformation zu ergreifen. Die Energieversorgung muss als Teil der Daseinsfürsorge für private, gewerbliche und auch industrielle Verbrauchergruppen sichergestellt werden: Wir brauchen Rettungsschirme für Bürgerinnen und Bürger auf der einen Seite sowie für Industriearbeit auf der anderen Seite, etwa in Form von Finanzierungen, Kapitalhilfen und Bürgschaften sowie einer staatlichen Deckelung von Energiepreisen. Zudem darf der Ausbau der Erneuerbaren und der Leitungs-Infrastruktur darf nun keinesfalls ins Stocken geraten, sondern muss im Gegenteil mit noch einmal erhöhtem Tempo vorangetrieben werden, wie wir es schon lange fordern. Zugleich muss die Politik die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats stärken, in Bildung, Infrastruktur und Digitalisierung investieren. Denn die militärische Friedenssicherung darf in dieser schwierigen Lage nicht zulasten des sozialen Friedens erkauft werden.