Bezirk Berlin-Mark Brandenburg

Back to the Future: Kann Berlin wieder zur „Apotheke der Welt“ werden?

Eine arbeitnehmerorientierte Analyse des schwarz-roten Koalitionsvertrages bezüglich der Perspektiven industrieller Gesundheitswirtschaft für die Hauptstadtregion.

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Foto: © IGBCE/Colourbox.de

Kurz nach der Vorstellung des schwarz-roten Koalitionsvertrages erschien im „Tagesspiegel“ ein Bericht, der auf den ersten Blick erstmal gar nichts mit den Plänen der Berliner Koalitionäre zu tun hat: Ein Berliner Team von Wissenschaftler*innen hat demnach einen Covid-19-Impfstoff entwickelt, der als Nasenspray verabreicht werden kann. Die Vorteile einer derartigen Impfung sind demnach, dass diese leichter zu verabreichen sowie einfacher zu lagern sei und sie auch in Regionen eingesetzt werden könne, in denen es weniger geschultes Personal gibt. Ein weiterer Vorteil könnte darüber hinaus sein, dass ein Impfstoff als Nasenspray bei Menschen, die generelle Angst oder Skepsis gegenüber Spritzen haben, dafür sorgen könnte, dass diese sich dann trotzdem damit impfen lassen. Auch wenn die Corona-Pandemie in der breiteren Wahrnehmung fast schon vergessen scheint, könnte das Spray ein weiterer „Gamechanger“ zur endgültigen Eindämmung eines möglichen Wiederaufflammens der Pandemie werden. Insbesondere auch dann, wenn wieder neue Virus-Mutationen entstehen.

Die Chance, dass dieser Impfstoff dann jedoch auch in Berlin in größeren Mengen hergestellt wird, ist unter den derzeitigen Rahmenbedingungen aber eher gering. Auch wenn SPD und CDU in ihrem Koalitionsvertrag betonen, dass sie die „Gesundheitswirtschaft in der Metropolregion stärken und zur führenden Region“ hierbei werden wollen. Im Wirtschafts-Kapitel des Vertrages ist dies sogar die erste Branche, die namentlich genannt wird. Weiter vorne in der Präambel heißt es ferner wörtlich: „Es geht darum, dass wir exzellente Wissenschaft, Forschung, Technologie und unsere innovative Wirtschaft stärken.“ Im Bereich zu Gesundheit und Pflege wird im Rahmen des Unterkapitels zur Digitalisierung weiter darauf verwiesen, die Position des Landes Berlin als „führende Gesundheitsstadt“ zu stärken, die „Weiterentwicklung Berlins zur Gesundheitsmetropole“ soll unterstützt werden und Berlin soll gemeinsam mit Brandenburg als „Zukunftsregion für Gesundheitswirtschaft“ positioniert werden.

Gleichzeitig heißt es – jetzt wieder im Wirtschafts-Kapitel – dass „Berlins größte produzierende Branche die Kultur- und Kreativwirtschaft“ sei. Es ließe sich jetzt lange darüber streiten, ob die Kultur- und Kreativwirtschaft eine produzierende Branche ist. Wahrscheinlich würden sich sogar einige „Kreative“ aus diesen Bereichen hiergegen verwahren.

Der Koalitionsvertrag wirkt im Bereich industrieller Gesundheitswirtschaft unterambitioniert.

Aber was im Bereich der produzierenden Gesundheitswirtschaft ganz deutlich wird, ist die Tatsache, dass der Koalitionsvertrag zwar einige wichtige Ansatzpunkte hierzu liefert, für eine Stadt bzw. für ein Land, das einst als „Apotheke der Welt“ galt, klingt das angesichts der durch die Pandemie ganz offensichtlich hervorgetreten Bedarfe an medizinischen Industrieprodukten doch alles ein wenig unterambitioniert. Wenn Berlin, wie es die Koalitionspartner sagen, tatsächlich „Leuchtturmprojekte im Bereich Zell- und Gentherapie“ entwickeln will, der „Biotechnologie-Standort zu einem Hotspot für neuartige Therapien“ ausgebaut werden soll und Berlin „Europas Startup- und Gründungs-Hauptstadt“ auch in der Gesundheitswirtschaft werden will, führt kein Weg daran vorbei, auch die industrielle Gesundheitswirtschaft Berlins in Gänze zu stärken. Denn hier ist es so wie beim eingangs angeführten Nasenspray: Die eigentliche Wertschöpfung mit der Entwicklung neuer Arbeitsplätze und allem, was dazu gehört, entsteht durch Forschung, die Produktion und den Vertrieb des jeweiligen Medikaments.

Wenn der Fokus der Koalition hier nicht stärker wird, findet die Produktion der jeweiligen Medikamente in jedem Fall zukünftig im Ausland statt. Möglicherweise führt es dann sogar zu einem weiteren Abbau der in Berlin breit vorhandenen Strukturen in der industriellen Gesundheitswirtschaft, da die global agierenden Pharmaunternehmen den Standort ihrer Produktionsstätten nach unternehmerischen Rahmenbedingungen wie Energiepreisen, Infrastruktur, Preisregelungen für Medikamente sowie Austausch mit der Forschung und Arbeitskräftepotential ausrichten. So ist das im Kapitalismus, auch wenn Schwarz-Rot ein klares Bekenntnis zur „sozialen Marktwirtschaft und für eine „klare Willkommenskultur für Unternehmen“ in der Einführung ihres Wirtschaftskapitels abgegeben hat. Allein damit wird Berlin jedoch nicht erneut zum Motor Deutschlands als „Apotheke der Welt“. 

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Deutschland hat den Ruf als „Apotheke der Welt“ verloren.

Dieses Label ist heute lange schon verloren. In einem längeren Text in der „Neuen Zürcher Zeitung“ aus dem Jahr 2021 beschreibt der Autor Michael Rasch komprimiert, wie Deutschland sich hierzu entwickelt hatte und wie es diesen Ruf in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder verlor. Mit der Firma Schering, die einst aus einer Berliner Apotheke entstanden und jetzt Teil des Bayer-Konzerns ist und dem Pharma-Medizin-Technik Konzern B. Braun Melsungen, der ebenfalls aus einer Apotheke im nordhessischen Melsungen entstand und heute zwei Berliner Produktionsstandorte in Neukölln aufweist, werden zwei der wichtigsten Berliner Betriebe der industriellen Gesundheitswirtschaft genannt. Bayer und B. Braun Melsungen bieten in Berlin zusammen über 7000 Arbeitsplätze! Beide Unternehmen haben eine lange Mitbestimmungs-Tradition, beide sind Mitglieder in Arbeitgeberverbänden, beide sind tarifgebunden im Flächentarifvertrag Chemie. Alles also genau so, wie sich es die schwarz-roten Koalitionäre in ihrer wirtschaftspolitischen Ausrichtung wünschen!

Kurzgefasst geht die Geschichte der „Apotheke der Welt“ der „Neuen Zürcher Zeitung“ folgend so: Geschäftstüchtige deutsche Apotheker haben im 19. Jahrhundert angefangen, ihre Arzneimittelproduktion zu industrialisieren. In der Verbindung mit den zur damaligen Zeit entstehenden Chemie-Großkonzernen und einer weltweit anerkannten Pharma-Forschung entwickelte sich Deutschland daraufhin zum weltweiten Marktführer im Segment industrieller Medizinprodukte. Zwei Weltkriege und vor allem auch die Verbindungen der Großindustrie, darunter auch die Chemieindustrie, zum nationalsozialistischen Regime – inklusive Zwangsarbeit und Herstellung von Produkten des Kriegs- und Vernichtungsapparates – zerstörten diesen Ruf. Im Rahmen des „Wirtschaftswunders“ konnte sich die pharmazeutische Industrie zwar wieder etwas erholen, musste jedoch durch mehrere Skandale mit Medikamenten in den 1960er und 1970er Jahren und den daraus folgenden neuen strengeren Regulierungen mit hohen Kostensteigerungen umgehen.

In den 1980er kamen dann immer mehr Generika auf, die die Gewinne der deutschen Ursprungsentwickler verringerten und es kam zu Konzentrationsprozessen der Pharmaindustrie mit Fokus auf die USA und vor allem die Schweiz. Schlussendlich führte die Globalisierung dazu, dass Produktionsstätten von Europa nach Asien verlagert wurden. Deutschland hatte das Label „Apotheke der Welt“ verloren. Asien hat diese Rolle übernommen. Doch was ist, wenn diese neue „Apotheke der Welt“ dann nicht mehr liefert, wie „Die Welt“ im April 2021 in der Hochzeit der Pandemie fragte?

Pandemie und Medikamentenmangel bringen die Themen Lieferketten und „Re-Shoring“ auf die Tagesordnung.

Der Bericht der ursprünglichen Hamburger Zeitung (jetzt mit Sitz in Berlin) geht darauf zurück, dass Indien als größter Impfstoffproduzent der Welt damals entschieden hatte, keine Impfstoffe mehr zu exportieren und diese nur der heimischen Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Auch wenn das nur eine vorübergehende Maßnahme war, so ist dieser Vorfall bei Weitem nicht der einzige, der zu einem Umdenken – zumindest in der Theorie – in Bezug auf die Herstellung von Arzneimitteln geführt hat. Die Diskussion über weltweite Lieferketten und auch das Thema „Re-Shoring“ – also die Rückholung von Produktion nach Deutschland und Europa – kam im Rahmen der Pandemie ganz plötzlich und unerwartet auf die politische Tagesordnung. Dabei kam es bereits vor dem Ausbruch der Pandemie im Jahr 2020 zu Vorfällen, die ein früheres Umdenken hätten hervorrufen können: Lieferengpässe durch Produktionsausfall in asiatischen Fabriken zur Herstellung von Antibiotika brachten erste Warnmeldungen über Mangel an Arzneimitteln. Die Pandemie mit all ihren Einschränkungen verstärkte diese dann. Und hier ging es noch nicht um Impfstoffe gegen das Virus, die zu dem Zeitpunkt noch nicht entwickelt waren, sondern um ganz klassische Standardprodukte. 

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Foto: © IGBCE/Andreas Reeg
  
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Foto: © IGBCE/Andreas Reeg

Und das Thema ist immer noch akut: Bereits seit letztem Winter gibt es in Apotheken einen sichtbaren Mangel an zahlreichen Medikamenten: Krebsmedikamente, bestimmte Antibiotika oder Husten- und Fiebersäfte für Kinder sind wohl nur die Spitzen mehrerer Eisberge. Der „RBB“ und der „Tagesspiegel“ berichteten über mehr als 470 Medikamente, bei denen das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte derzeit Lieferengpässe aufweist. Tagtäglich bringen die Titelseiten der verschiedensten Medien neue Hiobs-Botschaften zum Thema Medikamentenversorgung auf die Titelseiten. Für ein Industrieland mit einer großen Historie in der industriellen Gesundheitswirtschaft untragbare Zustände!

Fünf Vorschläge zur Stärkung der industriellen Gesundheitswirtschaft

Als Interessenvertreter*innen der abhängig Beschäftigten in der industriellen Gesundheitswirtschaft Berlins wollen wir daher zum Beginn eines neuen Senats einige konstruktive Vorschläge machen, um den Standort Berlin als Ganzes zu stärken. Berlin braucht Fachkräfte in der industriellen Gesundheitswirtschaft und wir müssen etwas dafür tun, dass sie attraktive Arbeitsbedingungen vorfinden sowie nachhaltige Beschäftigung in Berlin sichern. In Kombination mit den Forderungen der Unternehmen und einem klaren Willen einer neuen Koalition lässt sich hieraus vielleicht wirklich eine zukunftsträchtige Strategie entwickeln. Wir schlagen die folgenden fünf Kern-Punkte dafür vor:

Image der industriellen Gesundheitswirtschaft stärken:

Die industrielle Gesundheitswirtschaft in Deutschland hat durch eine lange Geschichte von Skandalen ein Image-Problem. Die oftmals verächtlich als „Pharma-Lobby“ bezeichnete Branche, samt ihrer Verbände und auch den Interessenvertretungen der Beschäftigten, galt in bestimmten Kreisen lange Zeit als eine Art notwendiges, aber ungeliebtes „Schmuddelkind“ der deutschen Wirtschaft. Spätestens mit der Pandemie und den lebenserhaltenden Impfstoffen, die nach einer langen Zeit des Lockdowns jetzt wieder ein normales Alltagsleben ermöglichen, hat sich dieses Bild auch durch die schnelle Herstellung von Impfstoffen in der Pandemie gewandelt. Hieran gilt es anzuknüpfen. Berlin hat mit seinen Strukturen wie der Marke „Gesundheitsstadt“, der Wirtschaftsförderung Berlin.Partner, dem „Masterplan Industriestadt Berlin“ (MPI), dem „Steuerungskreis Industriepolitik“ (SKIP), der breit gefächerten universitären Landschaft und den Forschungsinstituten alle Möglichkeiten, die industrielle Gesundheitswirtschaft positiver in die Gedankenwelt der Berliner*innen und über die Stadtgrenzen hinaus zu bringen. Impfstoffe gegen Corona-Viren, medikamentöse Therapien gegen Krebs oder Husten- und Fiebersäfte für Kinder schützen Menschenleben, müssen aber auch vorher entwickelt und dann produziert werden. Die schichtarbeitenden Beschäftigten bei B. Braun Melsungen und die Menschen, die „beim“ Bayer im Wedding hart arbeiten, brauchen davon nicht mehr überzeugt zu werden. Der Rest der Stadt vielleicht aber schon. Wenn den Menschen noch mehr deutlich gemacht werden kann, wie die Entwicklung und Herstellung von Medikamenten das Leben positiv beeinflussen kann und die Gesundheit von Menschen schützt, sind wir einen wichtigen Schritt weiter. 

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Foto: © IGBCE/Andreas Reeg

Mitbestimmung und Tarifverträge stärken:

Die industrielle Gesundheitswirtschaft Berlin ist geprägt durch ein kooperatives und sozialpartnerschaftliches Miteinander von Betriebsräten und Geschäftsführungen. Das bedeutet nicht, dass hier keine Konflikte ausgetragen werden, aber Betriebsräte in der industriellen Gesundheitswirtschaft denken vordergründig an die Sicherung von Standorten, das Wachstum selbiger und vor allem dabei an die Arbeitsplätze der Beschäftigten. Der Flächen-Tarifvertrag der Chemischen Industrie liefert einen umfassenden Rahmen für diese Betriebe und ist gleichzeitig ein großer Anreiz zur Fachkräftegewinnung. In der letzten Tarifauseinandersetzung haben die Sozialpartner im Bewusstsein ihrer Verantwortung – vor allem in Krisenzeiten – ohne flächendeckende Streiks ein für alle Seiten akzeptables Tarifpaket ausgehandelt, das selbst in den konservativen und wirtschaftsnahen Teilen des Journalismus Anerkennung brachte. Für Betriebe, die nicht (oder noch nicht) den Flächentarifvertrag vollumfänglich anwenden können, bietet das Tarifwerk flexible Möglichkeiten. Es liegt im Rahmen der Tarifautonomie bei den Sozialpartnern selbst, Tarifverträge abzuschließen. Aber der zukünftige Senat kann hierbei durchaus flankieren, bei Betrieben, die keinen Tarifvertrag haben, auf die Vorteile verweisen und bei Betriebsbesuchen regelmäßig auch Gespräche mit den Betriebsräten einplanen.         

Infrastruktur stärken – Bezahlbares Wohnen ermöglichen:

Die bessere Anbindung des ÖPNV an die Betriebe der industriellen Gesundheitswirtschaft im Rahmen der Mobilitätswende ist für die Beschäftigten eines der wichtigsten Anliegen. Einige der Betriebe sind in schlecht angeschlossenen Industriegebieten angesiedelt. Zu viele Beschäftigte kommen aufgrund der Schichtsysteme, der schlechten Anbindungen und Taktungen immer noch mit dem Auto und halten den Individualverkehr auch damit auf einem hohen Niveau. Es gibt Positivbeispiele, wie den Bayer-Campus im Wedding, der sowohl mit U- wie auch mit S-Bahn gut erreichbar ist. Die B. Braun Betriebsstätte am Mistelweg ist aber weiter entfernt von S- und U-Bahnhöfen und lediglich mit zwei Buslinien erreichbar. Eine hiervon ist auf den Schichtverkehr schlecht getaktet. Hier kann der Senat zusammen mit dem Bezirk Unterstützung leisten. Zudem wird das Thema Wohnen immer essentieller für die derzeitigen und auch die zukünftigen Fachkräfte. Schwarz-Rot hat sich das Thema Wohnen ganz groß auf die Fahnen geschrieben. Das ist richtig und auch für die Beschäftigten in der industriellen Gesundheitswirtschaft zwingend erforderlich. Neben den umfangreichen Plänen hierzu schlagen wir darüber hinaus vor, zu prüfen, ob nicht gemeinsame Modell-Projekte von Senat und den Betrieben der industriellen Gesundheitswirtschaft zur Errichtung neuer Werkswohnungen – speziell für die Beschäftigten – innovative Ansätze zur Fachkräftegewinnung und -sicherung sein können.       

Zusammenarbeit mit Brandenburg stärken:   

Ganz klar ist und das haben auch die Berliner Koalitionäre erkannt: Für eine tragfähige zukünftige industrielle Gesundheitswirtschaft geht ohne Brandenburg gar nichts! Brandenburg ist das zentrale Energieland für Berlin, zahlreiche Beschäftigte kommen täglich von Brandenburg nach Berlin und für mögliche Neuansiedlungen muss Brandenburg immer mitgedacht werden. Das betrifft insbesondere Industriegebiete in den Randbereichen. Wir wollen hier die gemeinsamen Anstrengungen verstärken und ausbauen. Es gibt bereits ein gemeinsames Gesundheitscluster, das gestärkt werden kann. Hochrangige Vertreter*innen und Entscheider*innen sollten zukünftig an den Sitzungen des SKIP teilnehmen, es könnte darüber hinaus geprüft werden, ob im Rahmen des MPI gemeinsame Projekte mit der Brandenburger Wirtschaftsförderung möglich sein können und vielleicht hilft Berlin auch einmal ein wenig Demut und Respekt vor der Brandenburger Wirtschaftspolitik, die offenbar diskret, aber umso konsequenter die Tesla-Ansiedelung und auch weitere Projekte vorangebracht hat. Für zukünftige Vorhaben schlagen wir dem zukünftigen Senat vor, auch mal in Potsdam frühzeitig nachzufragen, wie die das dort denn machen würden. Auch wenn das natürlich für die selbstbewusste Berliner Seele etwas Überwindung kostet!

Die Entwicklung von neuen Produkten unterstützen – Produktion stärken:

Zentral und wirklich das Wichtigste ist für die Berliner Gesundheitswirtschaft die Entwicklung und die daraus folgende mögliche Herstellung von neuen Produkten in der Hauptstadtregion. Hier kann und muss der Senat in Sachen Forschungs- und Wirtschaftsförderung aus dem Vollen schöpfen. Nicht viel weniger als eine „Industriepolitische Strategie des Senats zur Stärkung der Gesundheitswirtschaft“ ist hier notwendig. Gemeinsam mit den Industrie- und Wirtschaftsverbänden und uns als Interessenvertretungen kann hier tatsächlich eine zukunftsträchtige Perspektive in den verbleidenden 3,5 Jahren der Legislatur entwickelt und auch schon implementiert werden. Dazu gehören natürlich auch eine Verwaltungsreform, die die Ansprache-Ebene auf der Seite der Politik für die Betriebe vereinfacht und die unkomplizierte Bereitstellung von Flächen in der Zukunft. Wichtig ist aber ein klares Bekenntnis des Berliner Senats zur industriellen Gesundheitswirtschaft. Verbal ist das mit dem neuen Koalitionsvertrag durchaus vorhanden. Aber in der Praxis geht es jetzt darum, alles dafür zu tun, dass neue Produkte in Berlin entwickelt und vor allem auch produziert werden! 

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Foto: © IGBCE/Andreas Reeg

Die Forderungen der Wirtschaft sind klar formuliert.

In breiter Front sind auch die Forderungen der Wirtschaft in Bezug auf ein Gegensteuern bereits klar formuliert. Preisdruck, Bürokratie und verschlafene Digitalisierung sind die Themen, die laut „Handelsblatt“ angegangen werden müssen. In der „Wirtschaftswoche“ hat Sabine Nikolaus, die Deutschlandchefin von Boehringer Ingelheim, hierzu auch klar Position bezogen. „Der Spiegel“ fragt etwas kritischer in einem Text mit dem bezeichnenden Titel „In der Fieberkurve“ im Januar dieses Jahres nach, „ob es mit ein paar Subventionen zur Standortpflege getan ist?“ und sieht auch die Unternehmen in der Verantwortung, die sich oftmals nur auf eine (billige) Produktionsstätte verlassen. Bayer Pharma-Chef Stefan Oelrich bewertete im „Tagesspiegel“-Interview die neuen Gesetzesvorhaben von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und gibt aber den Standort Deutschland dabei noch nicht auf.

Auf die erste Interview-Frage zu den Perspektiven der Pharma-Produktion in Deutschland antwortet er mit einem klaren: „Ja, ich habe noch Hoffnung.“ Dennoch werden viele Investitionen von Bayer, aber auch von anderen Pharma-Unternehmen zurzeit in den USA getätigt. Die niedrigen Energiekosten und die Anreize, die durch den Inflation Reduction Act gesetzt werden, locken natürlich auch deutsche Unternehmen an. Auch Großbritannien wird wieder interessanter für deutsche Pharma-Unternehmen. Vor kurzem hat das deutsche Unternehmen Biontech aus Mainz, das eng mit der US-Firma Pfizer zusammenarbeitet und mit der Firma JPT Peptide Technologies GmbH in Adlershof auch einen kleinen Berliner Ableger hat, eine Kooperation mit dem britischen National Health System – dem staatlichen zentralen Gesundheitsdienst des Landes – angekündigt, um in der Krebsbehandlung gemeinsam voranzugehen. Bezogen auf Berlin und Deutschland stellt sich dann hier schon die Frage, wer eigentlich der Ansprechpartner wäre: Das Gesundheitsamt in Reinickendorf, das in Marzahn-Hellersdorf, das in Neukölln, der Senat (Wirtschaft oder Gesundheit?) direkt oder gleich das Bundesgesundheitsministerium?

Der britische „Guardian“ berichtet, dass die US-Firma Moderna, die auch einen Covid 19-Impfstoff entwickelt hatte, bis 2030 Krebsimpfstoffe entwickeln und diese dann auch produzieren will. Das Hauptwerk von Moderna ist in Norwood (Massachussetts) in direkter Nähe zur renommierten US-Universität Harvard. Boston wird oftmals als Vorbild für Berlin mit seiner Charité und seiner Gesundheitswirtschaft genannt. Die großen Investitionen finden aber zurzeit eher in den USA statt. Ob es jedoch aus Perspektive der Verantwortlichen in Berlin generell sinnvoll ist, diesen strategischen Unternehmensentscheidungen tatenlos zuzusehen, wird vielleicht die Zukunft zeigen. Die Vergangenheit brachte jedenfalls mit einem Präsidenten Trump für vier Jahre und einem nicht eingeplanten Brexit einiges Durcheinander in die Wirtschaftsbeziehungen Deutschlands mit den USA und Großbritannien und auch in die Versorgung mit lebenswichtigen Arzneimitteln. 

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Zurück in die Zukunft? – Die nächsten Jahre sind entscheidend!

Die Arbeit des Senats in den nächsten Jahren ist für die hier aufgeführten Punkte entscheidend. Es wird wohl nicht zeitnah die technische Möglichkeit geben, eine Zeitmaschine anzuwerfen und – wie in der bekannten Filmreihe „Back to the Future – Zurück in die Zukunft“ – in die Zeit zurückzugehen, um Deutschland bzw. Berlin wieder einfach so durch die Veränderung des Raum-Zeit-Kontinuums zur „Apotheke der Welt“ zu machen. Dafür sind real große Anstrengungen nötig. Die Grundlagen sind mit dem vorgelegten Koalitionsvertrag von Schwarz-Rot durchaus vorhanden. Es gilt daher: Wir wollen sehr wohl zurück in die Zukunft. Aber dafür müssen wir jetzt sehr viel tun.

Gehen wir es an!


Autor*Innen:

Andrea Sacher, Betriebsratsvorsitzende Bayer AG am Pharma-Standort Berlin

Maria Schwarz, Betriebsratsvorsitzende B. Braun Melsungen AG Pharma Berlin

Rolf Erler, Bezirksleiter der Multibranchengewerkschaft IGBCE im Bezirk Berlin-Mark Brandenburg

Anis Ben-Rhouma, Gewerkschaftssekretär der Multibranchengewerkschaft IGBCE im Bezirk Berlin-Mark Brandenburg

Tagesspiegel 13.06.2023