Angekommen

Was ist eigentlich aus den Flüchtlingen geworden, die 2015/16 nach Deutschland gekommen sind? Zum Tag des Flüchtlings am 30. September haben wir mit einem von ihnen gesprochen. Miteinander reden – das sollten geborene Deutsche und Zugewanderte öfter tun, findet Ali Abo Nasser.

„Ich schlafe erst, wenn ich in Deutschland bin“, hatte sich Ali Abo Nasser vorgenommen. Da war er irgendwo allein in den Wäldern Ungarns auf der Flucht vor der Polizei. Ohne Wasser, ohne Nahrung, ohne Schutz gegen Regen und Kälte. Seine Schwestern und ihre Kinder, mit denen er schon den weiten Weg aus Syrien gemeistert hatte, waren bei dem Versuch festgenommen worden, über den Grenzzaun zu klettern. Es war nicht das erste Mal auf dieser albtraumhaften Reise, dass Abo Nasser sich sagte: „Entweder ich lebe und komme nach Deutschland, oder ich sterbe. Es gibt keinen anderen Weg.“ 

Dabei wollte er eigentlich nur in Frieden in Syrien leben, eine Familie gründen, in seinem Job als Informatiker arbeiten. Doch Männer im waffenfähigen Alter wurden gejagt während des Bürgerkrieges. Sowohl die syrische Armee als auch die Rebellen erhoben Anspruch auf sie. Abo Nasser versteckte sich. Sein Bruder, sein Schwager und viele Freunde wurden getötet. Da entschloss er sich 2015 mit seinen Schwestern zur Flucht. 

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„Ich habe gelernt, dass diejenigen, die anders denken, in einer Demokratie nicht deine Feinde sind.“

Ali Abo Nasser

Die Geschichte geht gut aus: Die ganze Familie ist in Deutschland angekommen. Ali Abo Nasser wurde in einem kleinen Dorf untergebracht und fand die Ruhe, das Erlebte zu verarbeiten. Er arbeitete im örtlichen Supermarkt und pendelte jeden Tag mehr als eine Stunde zu seinem Deutschkurs. „Ich liebe die deutsche Sprache, den Rechtsstaat und das Grundgesetz und genieße die Freiheit hier“, sagt der 31-Jährige. Das gibt ihm das Selbstbewusstsein, auch mit denen zu diskutieren, die der Meinung sind, die Flüchtlinge gehörten nicht zu Deutschland: „Ich habe gelernt, dass diejenigen, die anders denken, in einer Demokratie nicht deine Feinde sind.“ 

Sein Traum, in Deutschland zu studieren, hat sich nicht erfüllt. Doch er machte noch einmal eine Ausbildung in seinem Beruf als Informatiker und arbeitet jetzt als Service-Techniker bei Freudenberg Filtration Technologies im baden-württembergischen Weinheim. In seiner neuen Heimat fand er eine Frau wieder, die er schon in Syrien mochte. Seit 2019 sind die beiden verheiratet, 2020 wurde Sohn Adam geboren. Und seit April 2022 kann sich Abo Nasser deutscher Staatsbürger nennen. „Stolz darauf, Deutscher zu sein, darf man ja nur beim Fußball sein“, sagt er lachend. Das fällt ihm nicht schwer: Für deutschen Fußball hat er sich schon in Syrien begeistert.

Für Ali Abo Nasser ist es eine Selbstverständlichkeit, sich gesellschaftlich zu engagieren. Deswegen ist er bei der IGBCE aktiv. Geborene Deutsche und Zugewanderte sollten mehr miteinander reden, findet er: „Alle reden über Flüchtlinge, aber uns wird zu wenig zugehört.“ Viele syrische Bekannte von ihm finden keinen Kontakt zu deutschen Kolleg*innen oder zur Nachbarschaft. Dabei lohne es sich, aus den Erfahrungen der Flüchtlinge zu lernen: „Wir haben in Syrien erlebt, wie schnell sich eine Gesellschaft spalten kann.“ Integration, meint Ali Abo Nasser, ist immer beides: Geben und Nehmen.