1911–1920

Zwischen Weltkrieg und Revolution

Juli 1914: Der Weltkrieg droht! Der „Vorwärts“ warnt: „Die herrschenden Klassen […] wollen euch als Kanonenfutter missbrauchen.“ Doch was passiert? Sozialdemokraten und Gewerkschaften schließen den Burgfrieden mit dem kaiserlichen System. Am Ende des Jahrzehnts ist nichts mehr so, wie es vorher war.

Die Sozialdemokratie und der Krieg

„Der Vorwärts" berichtet über die Haltung der Sozialdemokratie zum Krieg

Foto: © dpa

Am 4. August 1914 versammelt Kaiser Wilhelm II. in Berlin die Vertreter aller im Reichstag vertretenen Parteien um sich und erklärt: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche! Zum Zeichen dessen, dass Sie fest entschlossen sind, ohne Parteiunterschied, ohne Stammesunterschied, ohne Konfessionsunterschied durchzuhalten mit mir durch dick und dünn, durch Not und Tod zu gehen, fordere ich die Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und mir das in die Hand zu geloben.“ Diesen Sätzen stimmen alle Parlamentarier, auch die der oppositionellen SPD, zu. Ein Grund dafür ist, dass es der Regierung gelungen war, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass das Deutsche Kaiserreich sich in einem Verteidigungskrieg gegen Russland befände. Dies gilt auch für weite Teile der SPD und der ihr nahestehenden Gewerkschaften. Ein weiterer Grund, einen Burgfrieden mit dem wilhelminischen System zu schließen, ist der Wunsch der Gewerkschaften, nach vielen Jahrzehnten der Verfolgung und des harten Einsatzes für die Interessen der Arbeiter endlich vom Kaiserreich respektiert zu werden.

Das Hilfsdienstgesetz: Zugang zur Großindustrie

Auf der anderen Seite ist sich die Reichsleitung bewusst, dass sie einen Krieg nicht ohne und erst recht nicht gegen die Arbeiter und ihre Organisationen führen kann. Deshalb signalisiert sie Gegenleistungen für die Unterstützung im „Verteidigungskrieg“. Regierung und Militär erklären sich bereit, zum ersten Mal offiziell mit Gewerkschaftern zu reden und Schikanen im Alltag aufzuheben. Die Gewerkschaften verzichten dafür auf Arbeitskampfmaßnahmen während des Kriegs. Eine wichtige Stufe der Anerkennung erreichen die Gewerkschaften 1916 durch das Hilfsdienstgesetz. Die Unternehmen setzen sich auf Augenhöhe mit ihnen an den Tisch und richten in Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten Arbeiterausschüsse ein. Damit hat der Fabrikarbeiterverband erstmals Zugang zu den Großbetrieben der chemischen Industrie. Die Arbeiterausschüsse bilden die unmittelbaren Vorläufer der Betriebsräte, deren Einführung 1920 im Betriebsrätegesetz der Weimarer Republik beschlossen wird.

8-Stunden-Arbeitstag bei vollem Lohnausgleich

Als nach der russischen Oktoberrevolution 1917 die Angst vor einer Revolution auch in Deutschland immer größer wird, erkennen die Unternehmen die Gewerkschaften im Herbst 1918 an und sind bereit, Tarifverträge verbindlich zu machen – wogegen man sich gerade im Bergbau und in der chemischen Industrie bislang so heftig gewehrt hat. Akzeptiert werden auch die Arbeiterausschüsse in den Betrieben sowie der 8-Stunden-Arbeitstag bei vollem Lohnausgleich – Erfolge, für die die Gewerkschaften seit ihrer Gründung hartnäckig gekämpft haben. Zum Kriegsende im November 1918 erleben die Gewerkschaften einen grandiosen Aufschwung: Der Alte Verband zählt nun 437.000 Mitglieder, der Fabrikarbeiterverband zählt 644.910 – darunter 175.496 Frauen – und ist damit viertgrößte deutsche Gewerkschaft. In diesem Jahrzehnt entwickelt sich der Fabrikarbeiterverband lange vor anderen Gewerkschaften zu einer modernen Großorganisation. Aus der Gewerkschaft für Hilfsarbeiter verschiedenster Industrien ist eine zeitgemäße Industriegewerkschaft entstanden, die vom Hilfs- über den Facharbeiter bis zum Angestellten alle Beschäftigten in einer Branche vertritt. Ein System, das im Prinzip noch heute besteht.

Zwölf Millionen für die Demokratie auf der Straße

Im November 1918 ist der Erste Weltkrieg zu Ende: Der Kaiser hat abgedankt und Philipp Scheidemann die deutsche Republik ausgerufen. Die junge Republik führt als eine ihrer ersten Maßnahmen den 8-Stunden-Arbeitstag ein und verankert in ihrer Verfassung, die im Februar 1919 in Weimar verabschiedet wird, das Recht auf Koalitionsfreiheit, also das Recht, sich in einer Gewerkschaft zusammenzuschließen. Ein historischer Moment für die Gewerkschaftsbewegung. Im März 1920 wird die junge Demokratie auf den Prüfstand gestellt: Das Militär weigert sich, Regierung und Demokratie zu verteidigen, und putscht gegen den Staat. Und wie reagiert die deutsche Arbeiterbewegung auf den Kapp-Putsch? Zwölf Millionen Menschen folgen dem Aufruf demokratischer Parteien und Gewerkschaften und gehen für die Demokratie auf die Straße. Nach vier Tagen bricht der Putsch zusammen. Ein Glanzlicht in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Dennoch kommt die junge Weimarer Republik nicht zur Ruhe, es brechen schwere Zeiten für die Demokratie an.

1921–1930: Inflation und Massenarbeitslosigkeit