Kongress 2021 Geschäftsberichte
Gewerkschaftlicher Dreiklang

Was hat die IG BCE in den vergangenen vier Jahren für ihre Mitglieder erreicht, welche Projekte wurden umgesetzt, welche  Vorhaben vorangetrieben? Am zweiten Tag unseres Kongresses präsentierten die fünf Mitglieder des geschäftsführenden Hauptvorstandes den Geschäftsbericht 2017 bis 2020. Den Anfang machte der IG-BCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis.

Zu Anfang blickten die Mitglieder des geschäftsführenden Hauptvorstands in einem Video auf die vergangen vier Jahre zurück.

Die Geschäftsberichte im Einzelnen

Geschäftsbericht 2017-2020
"So wie es ist, soll es nicht bleiben"

Grundsatzrede des IG-BCE-Vorsitzenden

Michael Vassiliadis auf dem IG-BCE-Kongress 2021

Michael Vassiliadis auf dem IG-BCE-Kongress 2021

Foto: © Kai-Uwe Knoth

Der IG-BCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis hat ein umfassendes Maßnahmenpaket zur Modernisierung der Gewerkschafts-, Sozial- und Industriepolitik vorgelegt. „Zu Beginn dieses Jahrzehnts werden die Weichen für die Zukunft neu gestellt“, machte Vassiliadis am Montag in seiner Grundsatzrede vor 400 Delegierten des 7. Ordentlichen Gewerkschaftskongresses in Hannover deutlich. Diese neue Zeit benötige mehr Solidarität, mehr Gerechtigkeit und mehr sozialen Fortschritt. „So wie es jetzt ist, soll es nicht bleiben“, so Vassiliadis. „Wir brauchen und wir wollen Veränderung.“

In seiner gut einstündigen Rede skizzierte der IG-BCE-Vorsitzende die Sorgen und Herausforderungen der 600.000 Mitglieder, die traditionell „die Mitte der Facharbeiterschaft“ bildeten. „Unsere Leute sind diejenigen, die dieses Land am Laufen halten“, so Vassiliadis. „Diejenigen, über die dennoch selten gesprochen wird – als hätten sie keine Sorgen und Themen, keine Veränderungen in Arbeit und Alltag.“

Dabei stünden gerade die Beschäftigten aus den Branchen der IG BCE im Zentrum der industriellen Transformation in der neuen Dekade. „Für uns beginnen die Bereitschaft und die Möglichkeit unserer Kolleginnen und Kollegen, sich auf den Wandel einzulassen, mit sozialer Sicherheit, mit einer Perspektive für gute Arbeit und ein gutes Leben.“ Die Erwartungen und Sorgen ihrer Mitglieder stünden im Zentrum des gewerkschaftlichen Handelns. Konkret leitete Vassiliadis daraus fünf zentrale Handlungsfelder ab: Gute Arbeit, höhere Tarifbindung, mehr Einkommensgerechtigkeit, soziale Sicherheit und vorsorgender Staat sowie Transformation der Industrie.

Gute Arbeit: Vassiliadis kritisierte die stark gewachsene Arbeitsverdichtung in der Industrie. „Von Jahr zu Jahr höhere Burnout-Zahlen sind ein Alarmsignal.“ Die Beschäftigten fühlten sich ausgepresst wie die sprichwörtliche Zitrone. Das liege an einer unzureichenden Personalbemessung. Die IG BCE werde sich dafür einsetzen, dass diese Frage künftig der qualifizierten Mitbestimmung unterliege. „Wenn sich die Arbeitgeber verweigern, werden wir die Debatte in die Betriebe tragen.“ Angesichts der demografischen Entwicklung beginne ohnehin eine neue Zeit für Beschäftigte und Unternehmen – „die Ära der qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“. Deshalb gelte es, für eine bessere Aus- und Weiterbildung zu kämpfen. „Wir wollen, dass niemand zurückbleibt – schon gar nicht, wenn alle gebraucht werden.“ Vassiliadis schlug die Einrichtung eines Qualifizierungs- und Vermittlungswerks vor, das sich sowohl um Ausbildung, als auch um Qualifizierung und aktive Vermittlung von Arbeit in Arbeit kümmere.

Tarifbindung:  In den vergangenen Jahren hätten sich immer mehr Arbeitgeber still und schleichend aus der Tarifbindung verabschiedet. „Das ist ein fundamentaler Angriff auf Sozialstaatlichkeit, Arbeitnehmerrechte und Gewerkschaften“, kritisierte Vassiliadis. „Das dürfen wir nicht durchgehen lassen.“ Er forderte eine Strategiekonferenz zur Tarifbindung zwischen der neuen Bundesregierung und den Sozialpartnern. Sowohl öffentliche Aufträge als auch Fördergelder für Unternehmen in der Transformation dürften nur noch an tarifgebundene Betriebe gehen. Vassiliadis bekräftigte zudem die Forderung nach einer stärkeren Beteiligung der Arbeitnehmerbank an strategisch zentralen Unternehmensentscheidungen, wie Sitzverlagerungen oder Werksschließungen. Hier müsse es in den Aufsichtsräten einen „Einigungszwang“ geben.

Einkommensgerechtigkeit: Viele Beschäftigte machten sich Sorgen, dass die Kosten der klimagerechten Transformation der Gesellschaft sie finanziell überfordern könnten. Sie dürften nicht auf den Kosten sitzenbleiben, mahnte Vassiliadis. Hier sei ein sozial verantwortliches Gegensteuern gefordert – etwa durch Senkung der Abgabenlast beim Strom, höhere Mobilitätspauschale und Klimageld für alle. Wichtiger als Normalbürger mit Normalverbrauch zu belasten sei es, Energieverschwendung der Reichen zu verteuern.

Soziale Sicherheit und vorsorgender Staat: Vassiliadis warb für ein auf zehn Jahre angelegtes Infrastrukturpaket von 460 Milliarden Euro sowie für einen 120 Milliarden Euro schweren Transformationsfonds, der klimagerechte Projekte der Industrie anschieben soll. „Das lange Leben von der Substanz hat tiefe Spuren in unserem Gemeinwesen hinterlassen.“ Gleichzeitig brauche es mehr Steuergerechtigkeit – die Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen, im Gegenzug die höhere Besteuerung von großen Einkommen, Erbschaften und Vermögen, so Vassiliadis. „Würden wir die Vermögen in Deutschland nur so besteuern wir im Durchschnitt aller OECD-Länder, hätten wir Mehreinnahmen in Höhe von 30 Milliarden Euro jährlich.“ Auch dürften Kapitalerträge nicht länger niedriger besteuert werden als Löhne und Gehälter. „Die 25-Prozent-Pauschale muss weg, stattdessen der individuelle Steuersatz greifen.“

Transformation der Industrie: Der IG-BCE-Vorsitzende betonte, dass Mittel und Wege gefunden werden müssten, die Klimaschutzziele zu erreichen. Eine gut gemachte Transformation könnte das größte Modernisierungs- und Standortsicherungsprogramm der deutschen Industrie seit Jahrzehnten werden. Diese Frage entscheide sich in dieser Dekade. „Unsere ganze Aufmerksamkeit muss sich darauf richten, dass das Neue nicht irgendwo entsteht. Es muss hier entstehen. Bei uns.“ Dafür brauche das Land eine Investitions- und Technologieoffensive in ungekanntem Ausmaß. Zu einer nachhaltigeren Wirtschaft zähle auch, die Globalisierung wieder regionaler zu denken. Das mache die Wirtschaft insgesamt stabiler und widerstandsfähiger. Corona und die aktuellen Engpässe hätten die Anhängigkeit Europas von globalen Lieferketten deutlich gemacht. Es brauche wieder eine stärkere Produktion in Europa. „Es geht nicht um ein Ende der Globalisierung, es geht um eine konditionierte Globalisierung“, so Vassiliadis. „Mit sozialen, ökologischen und ethischen Leitplanken.“

Der Blick geht in die ganze Welt

Wie ist die globale Situation hinsichtlich der Auswirkungen der Corona-Pandemie, der Transformation und der Gewerkschaftserneuerung? Vertreter*innen von IndustriAll Europe und IndustriAll Global geben beim moderierten „Talk um die Welt“ und in einer Videobotschaft Antworten.

Am späteren Nachmittag richteten die Kongressteilnehmer*innen ihren Blick weit über die Grenzen Deutschlands hinweg auf gewerkschaftliche Tätigkeiten und Zusammenhänge im Rest der Welt. Luc Triangle, Generalsekretär von IndustriAll Europe, sendete ein Video-Grußwort nach Hannover. „Jeden Tag kämpfen wir gemeinsam für die Rechte unserer Kolleg*innen an unterschiedlichen Orten in Europa. Wir verfolgen dasselbe Ziel: Wir wollen gemeinsam aus der Krise kommen“, betonte er. Zwar lockere die Corona-Pandemie allmählich ihren festen Griff, so der Generalsekretär. Doch die Arbeitswelt habe sich in den vergangenen Monaten für sehr viele Menschen radikal verändert. Er richtete den Blick in die Zukunft: „In jeder Krise liegt eine Chance, und diese müssen wir nutzen“, sagte Luc Triangle. IndustriAll Europe freue sich auf die weitere Arbeit gemeinsam mit der IG BCE.

Digitale Gäste aus der ganzen Welt

Beim anschließenden „Talk um die Welt“ ging es im Wesentlichen um drei Schwerpunkte: Um die Auswirkungen der Corona-Pandemie, die Transformation und die Gewerkschaftserneuerung. Mirko Herberg von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) moderierte das digitale Gespräch live vom Kongress. Zugeschaltet waren Lu Varjão, Gewerkschaftsvorsitzende der brasilianischen Chemiegewerkschaft CNQ, John Shinn von der US-amerikanischen Gewerkschaft United Steelworkers, und Kemal Özkan, stellvertretender Geschäftsführer von IndustriAll Global.

Viele Arbeitsplätze in Brasilien gingen verloren

Die Lage in Brasilien sei nach wie vor schwierig, rund 600000 Opfer gebe es bislang durch die Pandemie zu beklagen, so Lu Varjão. Der Kampf für die Arbeitnehmer*innenrechte komme aus diesem Grund nicht voran, die rechten Parteien werden immer stärker. Im kommenden Jahr finden in Brasilien Präsidentschaftswahlen statt. Viele Arbeitsplätze habe man nicht bewahren können. Denn während der Pandemie sei es nicht gelungen, die Kommunikation mit den Arbeitnehmer*innen aufrecht zu erhalten. Ziel sei es jetzt, die Gewerkschaften in ganz Lateinamerika wieder aufzubauen.

Mehr Gewerkschaftsmitglieder in den USA

Zentrale Botschaft von John Shinn: Die Menschen in den USA hätten im Verlauf der Pandemie verstanden, warum Gewerkschaften wichtig seien. Die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder in den USA sei gewachsen. „Unsere Aufgabe war es, für die Sicherheit der Arbeitnehmer*innen zu sorgen – das ist uns gelungen“. Bei den Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern sei dies deutlich schwieriger gewesen.

Kemal Özkal sagte: „Der Coronavirus hat die größte globale Krise seit Generationen ausgelöst.“ Die soziale Gerechtigkeit bleibe aktuell auf der Strecke, „die Impfraten südlich der Sahara liegen gerade einmal bei fünf Prozent“. Positiv sei aber, dass der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer*innen jetzt wieder auf der Agenda stehe. Hinsichtlich der Anstrengungen, dass die Transformation gelinge, musste John Shinn feststellen: Man arbeite hart daran, aber das Thema sei insgesamt zurückgeblieben.

Deindustrialisierung in ganz Lateinamerika

Aus ganz Lateinamerika wusste Lu Varjão zu berichten, dass sich zahlreiche Unternehmen zwar bemühten, sich einen „grünen Anstrich“ zu geben. Die Regierung habe aber gar keine Strategie. „Brasilien ist quasi gelähmt“. 14 Prozent der Bevölkerung sei arbeitslos. Sie sprach sogar von einer von einer Deindustrialisierung in ganz Lateinamerika. Die Gewerkschaftslandschaft sei zersplittert.

Kemal Özkal erzählte von zahlreichen Arbeitsplatzverlusten im globalen Süden durch die Transformation. Es sei ein Thema, das alle Gewerkschaften gemeinsam angehen müssten. Sieben Prozent aller Beschäftigten sei weltweit gewerkschaftlich organisiert. Das müsse mehr werden. Schwierig sei es allerdings, weltweit eine Struktur aufzubauen.

Bedrückende Schilderung aus Myanmar

Anschließend trat Khaing Zar Aung vor das Mikrofon in der Kongresshalle. Die Präsidentin der Gewerkschaft IWFM (Industrial Workers Federation of Myanmar) berichtete rund eine halbe Stunde über die bedrückende Situation in ihrem Heimatland. Seit dem Putsch der Militärjunta im Februar 2021 sei das Leben der Menschen in Myanmar „sehr, sehr schwer“, sagte die junge Frau. Die Junta habe seit der Machtergreifung „Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, es kam zu Mord, Verfolgung, sexueller Gewalt, Folter und Zwangsarbeit. Willkürlich überfalle das Militär Wohltätigkeits- und Gesundheitseinrichtungen, bombardiere Dörfer, in denen ethnische Minderheiten lebten.

Seit dem Putsch seien mehr als 9000 Menschen verhaftet und mehr als 1000 getötet worden, darunter mindestens 75 Kinder. Auch rund zwei Dutzend führende Gewerkschafter des Landes hätten ihr Leben verloren. Denn kurz nach dem Putsch hätten die Gewerkschaften in Myanmar sich gegen das Regime gestellt und erklärt, dass sie sich weigern, mit der Junta zusammenzuarbeiten, so Khaing Zar Aung. Harte Maßnahmen gegen die Gewerkschaften waren die Folge, Hausdurchsuchungen und Razzien in Betrieben, Folterungen und körperliche Misshandlungen. Viele Gewerkschaftsmitglieder mussten untertauchen.

Millionen werden bald hungern

Außerdem habe das Militär die Pässe von Gewerkschaftsführern eingezogen und für ungültig erklärt. „Darunter auch meinen“, sagte die junge Frau, die derzeit in Kassel studiert und jetzt staatenlos ist. Mehr als ein Dutzend Gewerkschaften seien mittlerweile zu illegalen Organisationen erklärt worden. Viele Fabriken würden mit den neuen Militärherrschern zusammenarbeiten, Kontaktlisten und Telefonnummern von Aktivisten an die Junta weiterreichen. Widerstand gegen die immer schlechteren Arbeitsbedingungen und schlechte Bezahlung sei mittlerweile für viele Beschäftigte „zu gefährlich“. „Die Arbeiter trauen sich nicht mehr, für ihre Rechte einzutreten“, berichtete Khaing Zar Aung. Fabrikleitungen würden teils Beschäftigte direkt bedrohen, um zu verhindern, dass sie über Probleme in den Betrieben sprechen. Zudem sei über wichtige Industrieregionen das Kriegsrecht verhängt worden, Schutzvorschriften wegen der Corona-Pandemie deswegen außer Kraft gesetzt. „Die Arbeiter riskieren ihr Leben für eine Bezahlung unter Mindestlohn.“ Millionen Menschen in Myanmar würden bereits in Armut leben und hungern. Bald würde ein Großteil der Bevölkerung hungern müssen, weil das Geld für Lebensmittel fehle. 

Bitte um Sanktionen

Mittlerweile seien viele Menschen dazu übergegangen, ihre Rechnungen und Steuern nicht mehr zu bezahlen, um das Regime finanziell zu schädigen. Die Militärherrscher würden nun nach neuen Einnahmequellen suchen und dabei auch Unterstützung von internationalen Unternehmen erhalten, indem sie ihre Produktion in Myanmar ausbauen würden. „Deshalb rufen wir zu umfassenden nationalen Sanktionen auf“, so Khaing Zar Aung. IndustriAll habe sich bereits dem Aufruf zu Sanktionen und einem Boykott von Produkten aus Myanmar angeschlossen. „Wir bitten Euch, auf die deutsche Regierung einzuwirken, ebenfalls Sanktionen zu beschließen.“

Im Saal herrschte angespannte Stille angesichts der Schilderungen. Als Khaing Zar Aung ihre Rede beendet, erheben sich die Delegierten von ihren Plätzen und verabschieden die junge Frau aus Myanmar mit Standing Ovations. IG-BCE-Chef Michael Vassiliadis sicherte ihr umgehend Unterstützung zu. Man werde alle multinationalen Konzerne in den Branchen der IG BCE anschreiben und befragen, ob und welche Geschäfte sie mit Myanmar machen würden. „Wir werden sie auffordern, deinem Boykottaufruf nachzukommen“, so Vassiliadis. „Du kannst Dich auf die IG BCE, die deutsche Gewerkschaftsbewegung und IndustriAll verlassen.“ Mehr Informationen finden Interessierte unter https://www.labourstart.org/ 

Tageszusammenfassung im "Kongress-Journal"

Impressionen vom zweiten Kongresstag