Was bedeutet der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine für die Verhandlungen der Chemie-Tarifrunde? Welchen Einfluss hat die Inflation? Warum hat die IGBCE keine konkrete Forderung in Bezug auf ein Entgeltplus aufgestellt? IGBCE-Verhandlungsführer Ralf Sikorski stellte sich im Tarif-Talk live den Fragen der Mitglieder.
Die aktuelle Chemie-Tarifrunde steckt mitten in der heißen Phase. Doch die Lage im Land und in der Welt da draußen ist so komplex, wie wohl noch nie: Auf der einen Seite melden viele Unternehmen der Chemieindustrie beste Geschäftszahlen, auf der anderen Seite treibt der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine die ohnehin explodierenden Energiepreise und die hohe Inflationsrate weiter an. „Ich bin seit 40 Jahren gewerkschaftlich unterwegs – eine solche Situation habe ich im Rahmen einer Tarifrunde noch nie erlebt“, erklärte IGBCE-Verhandlungsführer Ralf Sikorski den Zuschauer*innen des Tarif-Talk zur laufenden Chemie-Runde. Der Vize-Vorsitzender der IGBCE stellte sich in der Live-Veranstaltung den zahlreichen Fragen unserer Mitglieder.
Das Interesse war hoch: Schon vor dem Tarif-Talk hatten Beschäftigte viele Fragen eingesandt, allein während des Live-Streams kamen noch mehr als hundert dazu. Viele davon drehten sich um ein Entgeltplus für die Beschäftigten der Chemiebranche – und wie hoch dieses wohl ausfallen kann angesichts von Preissteigerungen auf allen Ebenen und der Ukraine-Krise.
Ein wichtiger Punkt kam gleich zu Beginn des Livestreams auf: Warum die IGBCE im Vorfeld der Chemie-Tarifrunde keine konkrete Forderung in Bezug auf das Entgeltplus aufgestellt hat. „Ich bin sehr froh, dass wir genau diese Entscheidung getroffen haben“, antwortete Ralf Sikorski. „Ich habe noch nie erlebt, dass eine Inflationsrate innerhalb so kurzer Zeit solche Sprünge macht. Hätten wir im Februar eine Forderung aufgestellt, wäre die bereits überholt“, erläuterte er. „Jede vor Monaten oder Wochen genannte Zahl wäre jetzt zu hoch oder zu niedrig.“ Die ohnehin aktuell starke Volatilität – also die Schwankungsbreite – der wirtschaftlichen Entwicklung sei durch den Angriff auf die Ukraine am 24. Februar noch weiter verstärkt worden. Bislang sei über konkrete Prozentzahlen mit den Arbeitgebern noch nicht gesprochen worden, auch nicht bei der ersten Bundesrunde am 21. und 22. März. Das Arbeitgeberlager habe entsprechende Diskussionen blockiert. Allerdings sei klar, dass spätestens in der zweiten Verhandlungsrunde am 4. und 5. April über konkrete Zahlen gesprochen werden müsse, so Sikorski.
Wie realistisch denn eine deutliche Entgelterhöhung angesichts des Krieges in der Ukraine überhaupt sei, fragte IGBCE-Kollege Dennis per Instagram. Sikorski verwies auf das zweigeteilte Bild, das die Verhandlungen so schwierig mache: Zum einen melde die chemische Industrie Topzahlen für das vergangene Jahr und auch das erste Quartal 2022. „Gleichzeitig wissen wir mit Blick auf die Ukraine-Krise nicht, was uns noch erwartet“, sagte er. „Sei es ein Gas-Embargo oder ein Lieferstopp – beides wäre eine echte Bedrohung für Deutschland und Europa. Das ist eine Ausgangslage, die wir nicht ignorieren können.“ Um diese beiden Entwicklungen zusammenzubringen, hätte die IGBCE den Arbeitgebern das Angebot einer Brücke über das Tal der Unsicherheit gemacht – diese hätten sich darauf bislang aber nicht eingelassen.
Eine Brücke über das Tal der Unsicherheit
Auch wie diese Brücke aussehen könnte, wollten die Mitglieder wissen. Sikorski erläuterte den Ansatz: Es handelt sich bei dem Konzept um eine Kombination aus einer tabellenwirksamen, also dauerhaft geltenden Komponente, und einer möglichen Einmalzahlung – eine Art Inflations- oder Energiebeihilfe. Dies bei einer kurzen Laufzeit, um zunächst über die aktuelle Situation der ökonomischen Unsicherheit zu kommen. Am Ende des Jahres könne man dann zurückschauen, „wie sich die Inflation tatsächlich entwickelt hat und dann entscheiden, ob und wie das eingepreist werden muss“. Die Lage könne dramatischer werden, sie könne sich aber auch wieder entspannen. Eine Entscheidung mit langfristiger Wirkung sei derzeit also „vermutlich der falsche Weg“, so Sikorski. Es sei aber keine Option, die Verhandlungen jetzt grundsätzlich auszusetzen. „Wir müssen aktuell die Kaufkraft der Mitglieder stärken“, sagte er. „Wir können das nicht ewig aufschieben, das haben unsere Kolleginnen und Kollegen nicht verdient.“ Die IGBCE werde dafür sorgen, „dass die Beschäftigten eine Wertschätzung ihrer Arbeit erhalten. Wir werden deutlich machen, dass ohne Euch nichts läuft im Land. Zum Nulltarif gibt es Eure Leistung nicht.“ Er dringe im Gespräch mit den Arbeitgebern weiterhin darauf, „dass wir mit Blick auf die dramatische Situation eine intelligente Lösung suchen, die gut ist für unsere Leute und zugleich für die Betriebe die genannte Brücke über das Tal der Unsicherheit baut“. Wie die Brücke genau aussehen könne, sei Teil der Verhandlungen. Er habe gehofft, dass der Tarifpartner dieses Angebot umgehend aufgreife. „Es tut mir leid, dass in der ersten Runde die Chance vertan worden ist, das direkt anzugehen.“
Einige Mitglieder hakten nach und fragten, ob eine Brückenlösung nicht auch einen Bonus exklusiv nur für IGBCE-Mitglieder enthalten müsse. „Das haben wir mit den Arbeitgebern ausführlich diskutiert, bislang ohne greifbares Ergebnis“, erläuterte Sikorski. Die Tarifkommission werde das Thema „in absehbarer Zeit“ grundsätzlich aufgreifen und klären müssen, „wie wir damit in Zukunft tarifpolitisch und strategisch umgehen wollen“. Er betonte: „Ihr könnt sicher sein, dass wir diese Frage in den kommenden Jahren in den Mittelpunkt stellen werden.“
Schichtzulagen, Ausbildungsförderung und mobile Arbeit
Neben einem Entgeltplus spielten auch andere Fragen eine Rolle beim Tarif-Talk, die sich um die weiteren Forderungen der IGBCE drehten – wie die Vereinheitlichung der Schichtzulage auf 25 Prozent, neue Fördermöglichkeiten zur Ausbildung Jugendlicher und die Gestaltung des Transformationsprozesses sowie Mobiler Arbeit. „Schichtarbeit spielt für uns immer eine wichtige Rolle, denn da sind viele unseres Mitglieder betroffen“, sagte Sikorski. Es handele sich dabei um eine besonders anstrengende Form der Beschäftigung, für die es dementsprechend Ausgleich geben müsse. Auch müsse die Attraktivität der Schichtarbeit erhöht werden. „Immer weniger junge Leute wollen das machen. In anderen Branchen sind die Nachtschichtzulagen bereits deutlich höher, deswegen wollten wir da ein Signal setzen.“ Den Kolleginnen und Kollegen, die bereits jetzt in manchen Unternehmen 25 Prozent Nachtschichtzulage erhalten würden, könne man nur gratulieren: „Dann habt ihr einen guten Betriebsrat, der das bereits ausgehandelt hat“, erklärte Ralf Sikorski. „Das verhandeln wir als IGBCE nicht für einzelne Betriebe, sondern in der Fläche für die Chemiebranche.“
Beim Thema Ausbildung verwies er auf den Rückgang der Azubi-Zahlen in den Jahren 2020 und 2021. „Kurzfristiges Denken in dieser Sache gefährdet die Fachkräftesicherung in der Chemie-Industrie“, betonte Sikorski. Die IGBCE habe Konzepte entwickelt, wie Jugendliche während ihrer Ausbildung besser begleitet werden und in ihrer Prüfungsvorbereitung unterstützt werden könnten. Darüber habe man mit der Arbeitgeberseite bereits gesprochen, Details könne er aber noch nicht nennen. Auch über den Bereich Mobile Arbeit und Homeoffice sei schon geredet worden, auch hier könne er nicht ins Detail gehen. „Da sind wir mittlerweile recht nah beieinander“, verriet Sikorski immerhin. Klar sei auch dem Tarifpartner: „Ein Zurück in die Vor-Corona-Zeit wird es nicht geben.“ Während der Pandemie habe sich gezeigt, dass die Wirtschaft weiterlaufe – auch wenn viele im Homeoffice sitzen würden. Allerdings sei es wichtig, dass auch für die Arbeit daheim Regeln des Arbeits- und Gesundheitsschutzes aufgestellt und eingehalten würden. „Wir können und wollen nicht 150 Jahre Arbeits- und Gesundheitsschutz über Bord schmeißen und jeder macht zuhause rum, wie es geht.“
Sikorski appellierte zum Schluss des rund 70-minütigen Live-Talks noch mal an die Arbeitgeberseite, das Angebot der Brücke anzunehmen. „Wir müssen versuchen, diese schwierigen Verhandlungen zu einem vernünftigen Ende zu bringen. Wenn das auch in der zweiten Runde nicht klappt, müssen wir uns grundsätzlich überlegen, wie wir mit dieser Situation umgehen“, mahnte er. „Nichts wird besser, wenn wir das Thema vor uns herschieben.“
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