Zu Jahresbeginn öffnet sich ein milliardenschweres tarifliches Entlastungspaket für Hunderttausende Beschäftigte in den Branchen der IGBCE. Sowohl in der Chemie- als auch der Papierindustrie – aber auch in kleineren Tarifgruppen – greifen in diesen Tagen satte Entgelterhöhungen, die Deutschlands zweitgrößte Industriegewerkschaft in den vergangenen Wochen und Monaten durchgesetzt hat.
Zusätzlich dazu erhalten viele Beschäftigte bis zu 3000 Euro netto tarifliches Inflationsgeld. Diese Sonderzahlungen der Arbeitgeber, die von Steuer- und Abgabenlast befreit sind, hat die IGBCE seit Herbst bereits in gut 50 Tarifverträgen für 630.000 Beschäftigte durchgesetzt. „Das ist nicht nur ein Milliarden Euro schweres Inflations-Bollwerk für unsere Leute, sondern auch eine Milliarden Euro schwere Konjunkturspritze für unsere Volkswirtschaft“, sagte der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis bei der Jahrespressekonferenz der Multi-Branchengewerkschaft in Hannover.
Gemeinsam mit den unter Mitarbeit der IGBCE entwickelten staatlichen Gas- und Strompreisbremsen, die ebenfalls rückwirkend zum 1. Januar greifen, könnten so die Folgen der Verwerfungen an den Energiemärkten für das Gros der in den IGBCE-Branchen Beschäftigten abgefedert werden.
Vassiliadis rechnete für eine Durchschnittsfamilie im Chemie-Tarifvertrag vor, dass allein die im Januar ausgezahlte erste Tranche des Inflationsgelds (1500 Euro) die erwarteten Energie-Mehrkosten für 2023 abdecken werde. „Das zeigt, wie sich gelebte soziale Verantwortung von Tarifparteien und Bundesregierung ganz konkret spürbar für die Menschen auszahlt“, sagte der IGBCE-Chef, der auch Co-Vorsitzender der von der Bundesregierung eingesetzten Gaskommission war.
Gleichzeitig warnte Vassiliadis, dass die Krise in den energieintensiven Industrien der IGBCE nicht vorbei sei. Zwar seien die Energiepreise zuletzt stark gesunken, pendelten sich allerdings bereits auf einem „New Normal“ ein – mit Preisen, die gut dreimal so hoch seien wie etwa in den USA. Dieser Wettbewerbsnachteil wachse sich gerade zu einem Problem aus: In Chemie-, Papier-, Glas-, Keramik- oder Aluminiumindustrie bestimmten derzeit Produktionsdrosselungen, Verlagerungs- und Stilllegungspläne das Bild.
Die Energiepreisbremsen für die Industrie drohten zum Ladenhüter zu verkommen, weil sie an zu viele regulatorische Hürden geknüpft seien. Hier müsse schnell nachgesteuert werden. Neben wettbewerbsfähigen Energiepreisen bedürfe es aber auch schlüssiger Konzepte für die klimagerechte Transformation der energieintensiven Industrien. Gerade für Deutschlands drittgrößten Industriezweig, die Chemie, müsse geklärt werden, welche Zukunftsfelder der Transformation er besetzen wolle und welche Technologien und Infrastruktur dafür nötig seien. „Dazu brauchen wir jetzt schnell ein Perspektivtreffen beim Bundeskanzler, um Lösungen für die akuten Verwerfungen zu finden und die Weichen für die Branche in diesem Jahrzehnt zu stellen“, forderte Vassiliadis.
Entscheidend sei, die Krise jetzt zur Transformation zu nutzen und damit klimagerechte Modernisierung mit der Zukunftssicherung von Standorten und Beschäftigung zu verbinden. Vassiliadis legte dazu einen Aktionsplan vor, der unter anderem staatliche Anschubhilfen von 100 Milliarden Euro für Transformationsinvestitionen vorsieht. Das Konzept dazu hatte die IGBCE gemeinsam mit führenden Umweltorganisationen entwickelt. Es brauche jetzt Mut, Risikofreude und Entschlossenheit, forderte Vassiliadis. Das gelte vor allem für Unternehmer*innen und Manager*innen. „Ständiges Jammern ist kein konstruktiver Beitrag. Wir müssen die Transformation jetzt gemeinsam entschlossen vorantreiben.“
Unterstützung dabei müsse auch von der EU kommen. Sie müsse Regularien beim Wettbewerbs- und Beihilferecht abbauen und gleichzeitig ähnlich wie die USA mit ihrem Inflation Reduction Act (IRA) Großinvestitionen in die Transformation fördern. „Wir müssen klotzen statt kleckern – mit massivem Einsatz von Mitteln aus anderen, nicht ausgeschöpften EU-Fördertöpfen“, forderte Vassiliadis, der auch Präsident des Verbunds europäischer Industriegewerkschaften industriAll Europe ist.
In vielen Industrien ist Europa inzwischen extrem abhängig von anderen Weltregionen. Das gilt längst auch in der Arzneimittelproduktion, wo unzählige Wirkstoffe und Generika heute von wenigen Lieferanten aus Asien kommen. Wie zerbrechlich die Lieferketten sind, zeigen die aktuellen Lieferengpässe, die allein in Deutschland derzeit mehr als 330 Medikamente betreffen. „Die Politik hat in diesem regulierten Markt Fehlanreize gesetzt, sie muss dringend gegensteuern“, forderte der IGBCE-Vorsitzende. Vassiliadis präsentierte dazu einen Fünf-Punkte-Plan für eine nachhaltige Arzneimittelversorgung, der unter anderem den Aufbau einer strategischen Arzneimittelreserve sowie einer europäischen Produktion für besonders versorgungskritische Wirkstoffe vorsieht.