Bei den Europawahlen konnten rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien zulegen. Das müsse Demokratinnen und Demokraten zum Handeln zwingen, sagt der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis. Notwendig sei eine konsequente und selbstkritische Analyse der Politikangebote der politischen Mitte. Dass die Ursachen tiefer liegen, zeige auch eine Mitgliederbefragung der IGBCE.
Zu den politischen Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen der Europawahl erklärt der Vorsitzende der zweitgrößten deutschen Industriegewerkschaft IGBCE, Michael Vassiliadis:
„Dass rechtspopulistische und -extreme Parteien bei den Europawahlen allen internen Skandalen zum Trotz zulegen konnten, muss die Demokratinnen und Demokraten im politischen Spektrum zum Handeln zwingen. Es reicht nicht, einfach nur auf die fehlenden politischen Konzepte der Rechten zu verweisen. Notwendig ist auch eine konsequente und selbstkritische Analyse der Politikangebote der politischen Mitte. Denn die Ursachen für diese Wahlergebnisse liegen tiefer.
Aus unserer jüngsten Befragung unter IGBCE-Mitgliedern wissen wir, dass sich Industriebeschäftigte zu einer großen Mehrheit der europäischen Idee und der EU selbst sehr verbunden fühlen. Gleichzeitig halten sie aber viele politisch gesetzten Ziele für unrealistisch. Nicht etwa, weil sie nicht dafür wären – im Gegenteil. Sondern weil sie der Politik nicht zutrauen, den ambitionierten Zielen auch das richtige Maßnahmenpaket zur erfolgreichen Umsetzung folgen zu lassen.
Nach Ukraine-Krieg und Inflationswelle ballen sich Sicherheits-, Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen. Die arbeitende Mittelschicht in der Industrie hat immer öfter den Eindruck, dass die soziale Balance aus dem Lot kommt und Lasten einseitig auf sie abgeschoben werden. Sie sieht zunehmend den eigenen Wohlstand und Lebensstandard in Gefahr und sorgt sich um die Zukunft ihrer Arbeitsplätze
Es rächt sich jetzt, dass die Politik in Deutschland und Europa in den vergangenen 25 Jahren nicht konsequent genug die absehbaren Herausforderungen Transformation, Digitalisierung und Demografie angepackt hat. Wohlstand und gute Arbeitsplätze werden wir nur sichern können, wenn wir den Wandel engagiert vorantreiben und gleichzeitig niemanden ins Bergfreie fallen lassen. Dies allein dem Markt zu überlassen, wäre nicht nur blauäugig und politisch verantwortungslos, es würde den Rechten auch noch mehr Wählerinnen und Wähler bescheren.
Besonders deutlich wird das am Beispiel der Transformation der Industrie. Sie ist entscheidend für Europas Beitrag zur globalen Bekämpfung des Klimawandels. Gleichzeitig ist sie zum Erfolg verdammt, um Wohlstand und gute Arbeitsplätze auf unserem Kontinent zu sichern. Allerdings ist dieses Vorhaben voll von Henne-Ei-Problemen und offenen Finanzierungsfragen. Das kann nur die Politik auflösen: mit einer klaren Priorisierung der Einzelprojekte, realistischen Roadmaps für die Umsetzung und spürbaren Anreizen für Investitionen.
Die ,Ampel'-Regierung hat dies durchaus in ihrem Koalitionsvertrag angesteuert und vieles umgesetzt, verliert aber Kraft in der Umsetzung. Die Union, zuvor lange in Regierungsverantwortung und damit mitverantwortlich für große Teile der Versäumnisse der Vergangenheit, muss sich derweil fragen lassen, wie sie Transformation, Wachstum und soziale Gerechtigkeit denn jetzt konkret in Einklang bringen will.
Die Größe der Herausforderung anzuerkennen und sie als politische Chance für ein faireres Europa zu begreifen: Das muss jetzt das Gebot der Stunde sein.“