Seit fast anderthalb Jahren tobt der Krieg in der Ukraine. Eine Delegation des Gewerkschaftsverbandes IndustriALL ist nach Kiew gereist, um sich für die Rechte von Beschäftigten starkzumachen und die Weichen für einen sozial gerechten Wiederaufbau zu stellen. Ein Besuch zwischen Konferenz und Luftalarm.
Mittendrin im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine fand sich Alexander Bercht, Vorstandssekretär der IGBCE: „Es war eine kurze Nacht. Ab ca. 1:30 gab es erneut russische Luftangriffe auf Kiew, sodass wir mehrere Stunden im Luftschutzkeller verbringen mussten. Die ukrainische Luftabwehr konnte aber alle auf Kiew anfliegenden Objekte abfangen. Auch das Vorwarnssystem funktioniert schnell und gut. Darum ist nichts passiert und wir können nun - wenn auch etwas übermüdet - in die Konferenz mit den Kolleginnen und Kollegen der ukrainischen Industriegewerkschaften starten", schrieb er auf Social-Media von seiner Reise im Rahmen von IndustriALL. Gemeinsam mit der Delegation des internationalen Gewerkschaftsverbandes IndustriALL Global besuchte er im Juli die Ukraine. Dabei ging es um die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften vor Ort, die Weichenstellung für den Wiederaufbau des Landes und die Situation der Arbeitnehmer*innen.
Im Schatten des Krieges versuche die Regierung, die Rechte der Beschäftigten in der Ukraine unter dem Deckmantel der Liberalisierung und Deregulierung abzubauen – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, so Bercht. Bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn verabschiedete das ukrainische Parlament das Gesetz über die Organisation der Arbeitsbeziehungen im Kriegsrecht. Es schränkte die Rechte der Arbeitnehmer*innen erheblich ein. „Im Laufe des vergangenen Jahres kamen immer mehr Gesetze dazu, die einen massiven Rückschlag für die Beschäftigten bedeuteten“, sagt Bercht.
Neue Entwürfe sehen Änderungen vor, die die Beschäftigten fast all ihrer verbliebenen Rechte berauben sollen. Darunter ein Gesetz, das Beschäftigte in kleinen und mittleren Unternehmen vom Rechtsschutz ausschließt - demnach würden alle Arbeitsbedingungen durch einen Arbeitsvertrag und nicht, wie bisher, durchs Arbeitsrecht bestimmt. Diese Gesetze verstoßen zum Teil gegen EU-Richtlinien, was einen möglichen Beitritt der Ukraine erschwert, und „sind weit von internationalen Standards entfernt“, erläutert Bercht. "Für die Gewerkschaften ist das ein großes Dilemma. In Kriegszeiten kann und will man keine öffentlichen Proteste organisieren.“
Außerdem sind die Gewerkschaften geschwächt. Viele Menschen wurden von der Armee eingezogen, andere flohen - seit der Invasion haben rund fünf Millionen Menschen das Land verlassen, vier bis fünf Millionen Binnenvertriebene zählt die Ukraine. Qualifizierte Arbeitskräfte fehlen überall, zum Beispiel im Bergbau. In einigen Minen werden mittlerweile gar keine Löhne mehr gezahlt - und wo sie gezahlt werden, sind sie unterdurchschnittlich. Die Gesundheits- und Sicherheitssituation ist prekär, es fehlt an persönlicher Schutzausrüstung, gerade auch bei Feuer- und Grubenwehren.
Dass es in den Minen den besetzten Gebieten Donezk und Luhansk noch weitaus schlechter aussieht, kann man nur vermuten. Wer mit Gewerkschaften außerhalb der besetzten Gebiete kommuniziert, riskiert schwere Repressalien. Es gibt jedoch Berichte über erzwungene russische Staatsbürgerschaften, Zwangsrekrutierungen in die russische Armee, illegale Minen, Frauen und Kinder, die zur Minenarbeit gezwungen werden, und überflutete Minen, die eine Umweltbedrohung darstellen.
„Gegen die Arbeits- und Menschenrechtsverletzungen müssen wir dringend vorgehen, die Realitäten vor Ort bekannt machen und den internationalen Behörden Beweise vorlegen. Obwohl es Kriegszeit ist, muss die Stimme der Beschäftigten international gehört werden“, fordert der stellvertretende Generalsekretär von IndustriALL, Kemal Özkan.
Dazu gehöre auch, bereits jetzt die Grundlagen für den Wiederaufbau der ukrainischen Industrie zu legen. „Wir müssen sichergehen, dass die Pläne, Land und Industrie wiederherzustellen und für die Zukunft zu wappnen, auf der Basis starker Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte gezeichnet werden“, sagt Bercht. Der Wiederaufbau des Landes müsse Renten, Umschulungen und gerechte Übergänge für Beschäftigte berücksichtigen.
Seine abschließende Bilanz: "Angesichts der Größe, der Vielzahl und der Komplexität der Probleme, mit denen die Gewerkschaften im Land konfrontiert sind, sind ihr Engagement, ihre Motivation und ihre Kampfbereitschaft bewundernswert. Nun brauchen sie Unterstützung unser internationalen Gewerkschaftsfamilie. Und die ist ihnen sicher.“