Lehren aus der Pandemie

IG BCE legt Modernisierungspläne vor

Die IG BCE hat auf ihrer Jahrespressekonferenz ein umfassendes Lastenheft für Politik und Wirtschaft vorgelegt, in dem Lehren aus der Corona-Krise gezogen und konkrete Konzepte für das Vorantreiben der industriellen Transformation eingefordert werden. „Wir werden die vor uns liegenden Herausforderungen nur mit mehr gesellschaftlicher Solidarität und einer engeren Kooperation von Politik und Wirtschaft bewältigen“, sagte der Vorsitzende Michael Vassiliadis in Hannover. „Dabei will die IG BCE eine maßgebliche Mittlerin sein.“

Jahrespressekonferenz 2021

Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IGBCE

Foto: © Christian Burkert

Eine engere Zusammenarbeit – und zwar im europäischen Maßstab – sei jetzt beispielsweise erforderlich, um die Biotech- und Pharma-Industrie zu stärken. Die Pandemie zeige, dass wir zwar in der Forschung oben mitspielten, Produktionskapazitäten aber rar seien, so Vassiliadis. Die Branche sei zu lange allein als Kostentreiber im Gesundheitssystem verunglimpft worden. „Wir brauchen jetzt ein europaweit abgestimmtes Vorgehen, damit Spitzenforschung, sichere Wertschöpfungsketten und Massenproduktion gefördert werden.“

Er forderte einen europäischen Pharma-Pakt, bei dem alle relevanten Player der Gesundheitswirtschaft, Politik und Sozialpartner an einen Tisch kommen und konkrete Konzepte für die Stärkung dieses für die Bevölkerung so zentralen Wirtschaftszweigs vereinbaren. Dabei müsse sich der Staat stärker finanziell engagieren – wie es etwa der Bund in den vergangenen Monaten bei den Impfstoffentwicklern Biontech und Curevac getan habe – und das an Bedingungen knüpfen: Produktion in Europa, funktionierende Mitbestimmung, Tarifbindung. „Da hat gerade die Biotech-Branche noch Luft nach oben.“

Angesichts der kritischen Pandemie-Lage forderte Vassiliadis alle Unternehmen auf „radikal zu prüfen, welche Bürobeschäftigten wirklich noch im Betrieb sein müssen“. Eine staatliche Homeoffice-Pflicht, wie sie derzeit diskutiert wird, sei jedoch nicht praktikabel umsetzbar, weil zu viele Ausnahmetatbestände formuliert werden müssten. „In den Branchen der IG BCE haben wir mit den Arbeitgebern tragfähige Hygienepläne erarbeitet und die maximale Ausnutzung von Homeoffice ermöglicht“, so Vassiliadis. Die Ansteckungszahlen im Betrieb seien marginal, die Abstandsgebote in den Großanlagen problemlos einzuhalten. Diskussionen um einen Lockdown auch in der Industrie seien daher weltfremd – zumal dies schnell zu Versorgungsengpässen führen würde.

Der IG-BCE-Vorsitzende machte gleichzeitig auf die problematischen Auswirkungen von Homeoffice aufmerksam. So ließen sich Homeoffice und Homeschooling so gut wie nicht vereinbaren. Gleichzeitig würden Mitbestimmung und innerbetriebliche Demokratie geschwächt. „Im Homeoffice sind die Beschäftigten für Arbeitnehmervertretungen und Gewerkschaften kaum zu erreichen – zumal viele Unternehmen uns den digitalen Zugang versperren“, kritisierte Vassiliadis. Die IG BCE werde ihr im Grundgesetz verankertes Zutrittsrecht deshalb jetzt durchsetzen, sowohl auf dem Gerichts- wie auch dem politischen Weg.

Mit Blick auf die Herausforderungen der klimagerechten Transformation der Industrie mahnt die IG BCE konkrete Konzepte an. „Nur höhere Ziele vorzugeben, reicht nicht. Es ist höchste Zeit, ins Gestalten zu kommen – sowohl in der Politik, als auch in den Unternehmen“, sagte Vassiliadis. Dabei legte er für drei Handlungsfelder Modernisierungspläne vor:

  • Das Modell eines kreditfinanzierten Transformationsfonds im Gesamtvolumen von zunächst 120 Milliarden Euro, mit dem sich der Bund an klimafreundlichen Projekten und an von der Transformation besonders betroffenen Unternehmen beteiligt sowie Start-Ups und Forschung und Entwicklung fördert. So ließen sich betriebswirtschaftlich unrentable, aber klimagerechte Großinvestitionen anstoßen. Wie das funktionieren kann, haben die IG-BCE-eigene Stiftung Arbeit und Umwelt sowie das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in einer Kurzstudie vorgerechnet (im Anhang).
     
  • Die Mitbestimmungsinitiative zur gleichberechtigten Gestaltung von Strukturwandel in den Unternehmen. In den kommenden Jahren stünden unzählige weitreichende Zukunftsentscheidungen in den Betrieben an, die nicht allein von kurzfristigen Kapitalmarktinteressen, sondern von Nachhaltigkeit und Verantwortung für den Standort geprägt sein müssten, sagte Vassiliadis. „Das erreicht man nur, wenn in den Aufsichtsräten Kapital- und Arbeitnehmerbank auf Augenhöhe um die besten Lösungen ringen können.“ Weitreichende Entscheidungen wie Verlagerungen, Werksschließungen oder Massenentlassungen sollten in strittigen Fällen nicht mehr durch das Doppelstimmrecht des*der Aufsichtsratsvorsitzenden, sondern in einem Schlichtungsverfahren fallen.
  • Nachdem sowohl das Ende der Atomenergie wie auch der Kohleverstromung beschlossene Sache sind, müssten nun dringend die Alternativen ausgebaut werden. „Klimaneutralität in der energieintensiven Industrie lässt sich nur mit Wasserstoff organisieren. Ihn werden wir in gigantischen Mengen brauchen“, betonte Vassiliadis, der auch Mitglied des Nationalen Wasserstoffrats ist. Diese Schlüsseltechnologie müsse mit Hochdruck vorangetrieben werden. Gleichzeitig sei es vor allem zu Beginn nötig, möglichst viele Arten der Wasserstofferzeugung zu nutzen. Zudem dürften sich Deutschland und Europa bei diesem Energieträger der Zukunft nicht zu sehr abhängig machen von Importen.

Die industrielle Transformation wird auch den 7. Ordentlichen Gewerkschaftskongress der IG BCE vom 24. bis 29. Oktober 2021 in Hannover prägen. Es gelte, die richtigen Antworten auf die Herausforderungen der neuen Dekade zu finden, so der IG-BCE-Vorsitzende. Darüber wird in den kommenden Monaten auf bundesweit 50 virtuellen Delegiertenkonferenzen diskutiert, bevor der Kongress neue Leitbilder beschließen wird – industrie-, tarif- und organisationspolitisch.

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