Vassiliadis und Heil in Burghausen

Große Sorgen im bayrischen Chemiedreieck

Angespannte Stimmung in Oberbayern: IGBCE-Vorsitzender Michael Vassiliadis und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil besuchten den Chemiekonzern Wacker. Beschäftigten- und Unternehmensvertreter warnten dabei vor wachsenden Standortnachteilen – und den Folgen für die deutsche Wirtschaft.

Vassiliadis und Heil besuchen Wacker Chemie
Foto: © Georg Willmerdinger / Wacker Chemie AG

Landschaftlich hätte der Besuch von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IGBCE, kaum einen schöneren Rahmen haben können. Im beschaulichen Burghausen, direkt an der deutsch-österreichischen Grenze, präsentierten sich die schneebedeckten Gipfel der Alpen zum Greifen nah. Doch Zeit, um das malerische Bergpanorama zu genießen, blieb den beiden Gästen aus Niedersachsen nicht.

Denn im bayerischen Chemiedreieck braut sich derzeit eine gefährliche Mischung zusammen. Steigende Energie- und Rohstoffpreise, Versorgungssicherheit, Fachkräftemangel, fehlende Infrastruktur und die geplante Schließung eines wichtigen Werkes in der Nachbarschaft. Die Liste an Sorgen und Nöten ist lang – zu lang, um von den Betrieben vor Ort alleine gelöst zu werden.

Zunächst ging es für Vassiliadis und Minister Heil zu Wacker Chemie, dem größten Arbeitgeber der Region. Am traditionellen Produktionsstandort des Familienunternehmens (8 Milliarden Euro Umsatz in 2022, 27 Standorte weltweit) arbeiten in Oberbayern mehr als 10.000 Menschen. Produziert wird unter anderem Polysilizium – in einem extrem energieintensiven Prozess. Etwa vier Terrawattstunden Strom frisst Wacker jährlich – etwa ein Prozent des gesamten deutschen Stromverbrauchs. Manfred Köppl, Betriebsratsvorsitzender bei Wacker, rechnete vor: „Allein im letzten Jahr hatten wir Mehrkosten durch gestiegene Energie- und Rohstoffpreise von 1,5 Milliarden Euro.“

 Zentrale Rolle bei der Energiewende

Als einziger nennenswerter europäischer Produktionsstandort für Polysilicium, dem Grundstoff für Photovoltaikanlage, nimmt Wacker eine zentrale Rolle bei der Energiewende ein. „Beim Ausbau der Erneuerbaren sind wir ein wichtiger Partner. Unsere Erzeugnisse tragen dazu bei, Abhängigkeiten von China und Asien zu verringern. Damit stärken wir ganz Europa“, so Köppl. Außerdem sei die Silicium-Produktion auch für die Chip- und Halbleiterindustrie essenziell. „Ohne unseren Grundstoff würden Handys, Tabletts oder Computer nicht laufen – und das weltweit.“ Eine Schwächung, oder gar der Verlust der bayerischen Produktionsstädte hätte daher fatale Folgen für die gesamte europäische Wirtschaft!

Das unterstrich auch IGBCE-Chef Michael Vassiliadis auf der gut besuchten Betriebsversammlung bei Wacker vor rund 1400 Angestellten. „Gute Arbeit, gute Produkte und gute Unternehmen in Deutschland müssen erhalten werden. Ich erwarte daher von der Politik, endlich den Schalter umzulegen in Richtung Industrie- und Investitionsförderung. Wir brauchen schnelle Lösungen für die akuten Verwerfungen bei den Energiepreisen, einen verbindlichen politischen Ausbaupfad und massive Anschubhilfen für die Transformation.“

Arbeitsminister Hubertus Heil erklärte ebenfalls bei der Diskussion mit der Wacker-Geschäftsführung und dem Betriebsrat: „Die Chemiebranche ist der Seismograph der deutschen Industrie. Wenn es hier nicht mehr rund läuft, dann bekommen das schnell auch andere Branchen zu spüren. Wir stehen daher an der Seite der Beschäftigten in der Chemieindustrie und kämpfen um gute Industriearbeitsplätze und soziale Stabilität.“

Bei Wacker ist die Lage aktuell angespannt, im nur wenige Kilometer entfernten Chemiepark Gendorf ist sie bereits dramatisch. Auf einer Fläche von 197 Hektar haben sich hier neun verschiedene Unternehmen angesiedelt, produzieren rund 1500 chemische Stoffe. Neben Wacker zählt auch Gendorf zum Bayerischen Chemiedreieck.

Doch eine Meldung aus den USA erschütterte jüngst die bayerische Idylle: Das US-Unternehmen 3M, größter Arbeitgeber in Gendorf, wird sich mit seiner Tochter 3M-Dyneon komplett vom Standort zurückziehen. Ende 2025 soll die Anlage geschlossen und anschließend aufwendig zurückgebaut werden. Einen Weiterverkauf von Fabrik und Lizenz plant der US-Konzern derzeit nicht. Etwa 700 Mitarbeitende sind von der Werksschließung direkt betroffen. Doch Susanne Prause, Gewerkschaftssekretärin aus dem Bezirk Altötting,  warnt: „Dadurch könnte der gesamte Chemiepark ins Wanken geraten.“ Etwa 4000 Menschen arbeiten direkt im Chemiepark Gendorf, dazu kommen etliche Jobs im Umfeld, etwa bei Zulieferern und Dienstleistern. Prause schätzt, dass bis zu 10.000 Arbeitsplätze in Gefahr sein könnten.

Im Chemiepark Gendorf

Dyneon produziert in Gendorf sogenannte Fluorkunststoffe und ist für viele dieser extrem wichtigen Stoffe ebenfalls der einzige Produzent in Europa. Prause: „Mit der Schließung wird der deutschen und europäischen Industrie eine ihrer wichtigsten lokalen Rohstoffquellen genommen. Es drohen fatale Abhängigkeiten von verbleibenden asiatischen und US-amerikanischen Produzenten.“ Und am Ende schwere Verwerfungen in unseren Wertschöpfungsketten.

Wofür genau werden Fluorkunststoffe gebraucht? Kunststoffe auf Basis von Fluorpolymeren sind für eine moderne Industriegesellschaft unverzichtbar. Zu der Stoffgruppe zählen mehr als 4700 verschiedene Verbindungen und Einzelsubstanzen. Sie werden u.a. für Batterien gebraucht, in der Energieerzeugung (Brennstoffzelle, Wasserstoff-Elektrolyseure, Windkraft), bei der Fertigung von Chips, im Anlagenbau oder der Medizin. Wegen der besonderen Eigenschaften dieser Verbindungen ist ihr Einsatz bisher meist alternativlos.

Als Grund für seinen Rückzug gab 3M die u.a. von Deutschland initiierten Pläne zur strengen Regulierung von Fluorpolymeren (PFAS) innerhalb der EU an. Etliche Stoffe, die aufgrund ihrer langen Halbwertszeit auch „ewige Chemikalien“ genannt werden, sollen in den kommenden Jahren verboten werden.

IGBCE-Chef Vassiliadis und Arbeitsminister Heil kritisierten die Entscheidung des US-Unternehmens scharf, warnten vor weltweiten Auswirkungen. Ihr gemeinsamer Appell: Der Betrieb darf nicht einfach dicht gemacht werden, es müsse ernsthaft über einen Verkauf von Anlagen und Patenten diskutiert werden. Das lehnten die deutschen Vertreter des US-Unternehmens aber strikt ab. Angeblich fürchte man sich – selbst beim Verkauf – vor zukünftigen Klagen gegen die chemischen Produkte.

Vassiliadis erklärte im Gespräch mit der zutiefst verunsicherten Belegschaft: "Die heute gehörten Erklärungen nehme ich 3M nicht ab. Wenn die Firma hier nicht mehr produzieren möchte, dann sollen sie den Weg frei für einen Verkauf machen." Das Unternehmen müsse so seiner gesamtgesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden.

Heil und Vassiliadis kündigten außerdem an, direkte Gespräche mit der US-Muttergesellschaft suchen zu wollen.

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