Gasknappheit

Die Zeitenwende aktiv gestalten

Beim ersten Treffen der Konzertierten Aktion waren sich die Beteiligten einig: In diesen schwierigen Zeiten müssen Politik und Sozialpartner gemeinsam nach Lösungswegen suchen, um die Auswirkungen der Inflation für die Menschen im Land zu begrenzen, schreibt IGBCE-Chef Michael Vassiliadis in seinem Leitartikel.

Michael Vassiliadis, IG-BCE-Vorsitzender

Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IG BCE

Foto: © Helge Krückeberg

Die Zeitenwende ist in vollem Gange. Wir erleben, dass die Welt seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Ende Februar eine andere geworden ist – sowohl wirtschafts-, als auch sicherheits- und energiepolitisch müssen sich Deutschland und die westlich orientierte Welt neu aufstellen. Eine der drängendsten Herausforderungen ist aktuell, wie wir unsere Abhängigkeiten von russischem Gas und Öl reduzieren und zugleich unsere Gas-Versorgung im Winter sicherstellen können. Damit nicht ab dem Herbst die Menschen in ihrer kalten Wohnung sitzen, damit nicht ganze Industriezweige ihre Anlagen herunterfahren müssen. Auch die Inflation, angetrieben von den explodierenden Gaspreisen, macht vielen Menschen im Land schwer zu schaffen. Tanken, einkaufen, heizen: Alles wird teurer, für manche gar unbezahlbar. Um so wichtiger ist es jetzt, dass wir Wege finden, die Folgen der drastischen Preissprünge für Bevölkerung und Wirtschaft abzufedern. Politik und Sozialpartner müssen jetzt gemeinsam diese Zeitenwende gestalten. 

Das hat auch die Regierung erkannt. Bundeskanzler Olaf Scholz hat angesichts dieser Herausforderungen ein historisches Format wiederbelebt: Vor rund einer Woche gab es im Kanzleramt das erste Treffen im Rahmen der sogenannten Konzertierten Aktion, bei der sich Politik, Gewerkschaften und Arbeitgeber-gemeinsam an einen Tisch setzen, um über die Lage und mögliche gemeinsame Lösungswege zu beraten. Dabei hat die Sorge um die wirtschaftliche und soziale Entwicklung unseres Landes die Runde geprägt. Wir waren uns alle einig, dass einerseits unbedingt eine Rezession verhindert, andererseits die sozialen Folgen der Inflation begrenzt werden müssen. Die aktuelle Gasmangellage darf uns nicht ausbremsen. Klar war für alle Beteiligten auch, dass die klassischen Instrumente zur Inflationsbekämpfung in dieser speziellen Form der importierten Teuerung, die stark auf der Energiepreisentwicklung beruht, an ihre Grenzen geraten.  

Einigkeit in der Runde herrschte zudem darüber, dass die aktuelle Inflations-Entwicklung nicht auf eine von manchem Volkswirt geradezu hysterisch beschriene Lohn-Preis-Spirale zurückzuführen ist. Selbst die Arbeitgeber, denen diese Argumentation ja traditionell in die Karten spielt, teilten unsere Ansicht: Höhere Tariflöhne sind kein Treiber der aktuellen Teuerungsrate. Vielmehr haben die Arbeitgeberverbände bei dem Treffen die Belastung für die Betriebe in dieser Krisensituation thematisiert. Sie haben eingefordert, dass man sowohl bei der Regulierung der Unternehmen und der Unternehmensentscheidungen zwingend vom Fleck kommen muss, die Zinsentwicklung ein massives Hindernis für Investitionen darstellen kann, und dass die Lohnpolitik aktuell nicht ihr Hauptproblem ist.  

Schon vor dem Treffen hatten IGBCE, ihre Schwestergewerkschaften sowie der DGB klargemacht, dass Tarifverhandlungen nicht im Kanzleramt geführt werden. An den Grundfesten der Sozialpartnerschaft wurde dementsprechend auch nicht gerüttelt. Das heißt: Bei der Fortsetzung unserer Chemie-Tarifrunde im Oktober, aber auch allen anderen Tarifverhandlungen in unseren Branchen, wird es um eine nachhaltige Entlastung für unsere Beschäftigten gehen. Zumal wir gerade in der Chemie trotz der aktuell angespannten Lage eine Flut von Rekordgewinnen erleben. Denn viele Unternehmen der Branche konnten einerseits ihre Preissteigerungen – oft mit Margenaufschlag – weiterreichen, andererseits fließt das Gas noch. Sollte es bei dieser Konstellation bleiben, wird sich die Frage nach einer fairen Teilhabe der Beschäftigten stellen. Wir dürfen und werden nicht zulassen, dass unsere Beschäftigten mit Almosen abgespeist werden. Sie haben ein Recht auf eine spürbare und tabellenwirksame Erhöhung ihrer Entgelte – die allermeisten Preissteigerungen sind ja auch nicht vorübergehend, sondern nachhaltig. 

Beim Gas beispielsweise kommt eine zweite Welle der Preisentwicklung auf die meisten Verbraucherinnen und Verbraucher erst im nächsten Jahr zu: Dann nämlich stehen erst die Nachzahlungen für 2022 an – und das wird viele weiter belasten. Selbst unsere Beschäftigten in den Branchen der  IGBCE mit ihren guten Tariflöhnen, die besser bezahlt werden als einkommensschwächere Gruppen, werden durch die Kosten für Energie im häuslichen Bereich und Mobilität finanziell an ihre Grenzen gebracht. So begrüßenswert die bisherigen Entlastungspakete der Regierung im Volumen von rund 30 Milliarden Euro sind – dabei kann es nicht bleiben. Ich bin mir sicher, dass die „Ampel“ spätestens im kommenden Jahr wird nachlegen müssen, wenn die Gas-Nachzahlungen tatsächlich anstehen.  

Und der massive Anstieg der Energiekosten belastet die Haushalte ja nicht nur privat – auch unsere Beschäftigten in den energieintensiven Branchen wie Chemie, Glas oder Papier werden von reduzierten Gaslieferungen Russlands mit voller Wucht getroffen. Das gilt natürlich im Fall eines kompletten Embargo, aber auch für einen weiteren Rückgang der Gas-Lieferungen, der die Preise weiter explodieren lassen würde. Die Bundesregierung muss für diesen Fall vorsorgen und auch hier Kurzarbeit in den betroffenen Betrieben ermöglichen. Bislang ist eine vom Markt induzierte Kurzarbeit wegen zu hoher Preise und mangelnder Rentabilität nicht erlaubt. Das kann in dieser Ausnahmesituation nicht so bleiben. Gemeinsam mit dem Sozialpartner und der Politik werden wir jetzt weiter aktiv nach Lösungen suchen, um eine Rezession zu verhindern und die Menschen zu entlasten. Wir wollen diese Zeitenwende – im Sinne unserer Mitglieder – aktiv gestalten.