Zukunftskongress

Der Blick nach vorn

Auf dem IG-BCE-Zukunftskongress in Essen schauen 400 Gewerkschafter weit in die Zukunft, nehmen die Herausforderungen von Morgen ins Visier und fangen schon mal damit an, die passenden Werkzeuge zu entwickeln. Zugleich wird deutlich: Die Stärke der IG BCE liegt auch in ihren Traditionen und ihrer unverwechselbaren Kultur.

Rede von Michael Vassiliadis auf dem Zukunftskongress

Rede von Michael Vassiliadis auf dem Zukunftskongress

Foto: © Markus J. Feger

Eindringlicher kann ein Ausblick auf die nähere Zukunft vermutlich kaum ausfallen: "Wir stehen inmitten einer Zeitenwende. Die Transformation der Industrie läuft hinaus auf einen fundamentalen Bruch mit der bislang gewohnten Art zu arbeiten und zu leben." So bringt es der IG-BCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis zum Abschluss eines von intensiven Eindrücken und Debatten geprägten Zukunftskongresses in Essen auf den Punkt. Zwei Tage lang haben rund 400 Gewerkschafter – Haupt- und Ehrenamtliche, Mitglieder, Vertrauensleute, Jugendvertreter, Betriebsräte und Funktionäre – aus allen Organisationsbereichen der IG BCE inmitten der altehrwürdigen Industriearchitektur des Colosseum Theaters die "Perspektiven 2030+" in den Blick genommen. Und am Ende steht die Erkenntnis: Wo immer die Reise auch hingeht, wie auch immer sich die Branchen der IG BCE, ihr globales wirtschaftliches Umfeld, die Arbeitsgesellschaft und damit auch die Rolle und Bedeutung von Gewerkschaften verändern. Die Herausforderungen werden in jedem Fall weiter zunehmen – ebenso wie die Anforderungen an gute Gewerkschaftsarbeit.

Auf dem Kongress diskutieren die Delegierten unter anderem vier unterschiedliche Zukunftsszenarien, die in den zurückliegenden Monaten in einem aufwendigen Beteiligungsprozess mit Beschäftigten aus den Branchen der IG BCE entwickelt wurden. Die Bandbreite dieser vier "Zukunftsbilder", die in Essen in einer eindrucksvollen 3-D-Projektion zum Leben erweckt werden, könnte kaum größer sein. Ein Szenario erzählt von wachsendem Konkurrenz- und Verlagerungsdruck und einer schleichenden Schrumpfung von Wirtschaftsleistung und gesellschaftlichem Wohlstand. Ein anderes wiederum beschreibt, wie Deutschland seine Wachstumschancen in der sozial-ökologischen Wende erfolgreich nutzt. Ein weiteres schildert, wie die Politik mit immer neuen Regulierungsvorgaben Klimaschutz auf Kosten von Produktion und Beschäftigung durchsetzen will. Und schließlich gipfelt der rasante, durchaus ein wenig beklemmende Ausblick in die 3-D-Kristallkugel im Szenario "Tohuwabohu", in dem Deutschland im Spannungsfeld ökonomischer und ökologischer Konfrontation und angesichts wachsenden Populismus förmlich zerrieben wird. Mehr Krise geht kaum.

Schnell wird deutlich: Die vier Szenarien sind allesamt realistisch – aber nicht gleichermaßen attraktiv. "Es liegt nahe, sich ein möglichst vorteilhaftes Szenario herauszupicken und die anderen auszublenden. Aber: ›Wünsch dir was‹ ist nicht!", betont der IG-BCE-Vorsitzende in seiner Abschlussrede und mahnt: "Denn wir müssen auf alle möglichen Entwicklungen gefasst sein: Um das Notwendige zu unternehmen. Damit wir als IG BCE und damit die Belegschaften in den Betrieben stark bleiben."

Dem Wandel nicht ausweichen, sondern ihn frühzeitig in den Blick nehmen, ihn anpacken, ihn mitprägen: Unter diesem Leitgedanken steht der Zukunftskongress. Entsprechend wird den Delegierten einiges an Gedankenarbeit und Kreativität abverlangt. "Szenarien kennenlernen – Treiber des Wandels identifizieren – Lösungswerkzeuge entwickeln": Diesem Dreisprung folgt die Kongressdramaturgie. In intensiven Kleingruppen-Arbeitsphasen beschäftigen sich die Teilnehmer zunächst eingehend mit den Szenarien, lernen ihre spezifischen Herausforderungen kennen und machen erste spontane Vorschläge, mit welchen Werkzeugen, Angeboten und Strategien die IG BCE sowohl als politische Organisation, als auch ganz konkret in der betrieblichen Interessenvertretung angesichts neuer Herausforderungen weiter an Profil und Gestaltungsmacht gewinnen kann.

Impressionen vom Zukunftskongress

Später beschäftigen sich die Delegierten mit "Transformers", mit zentralen Treibern des Wandels – also mit jenen Themen, in denen aus IG-BCE-Sicht mit Blick Richtung Zukunft besonders viel "Musik" steckt. Es geht unter anderem um die Bedeutung der Wasserstofftechnologie im ökologischen Umbau der Industrie; es geht um die schöne, neue Welt von "New Work", in der Beschäftigte ihren Arbeitsalltag zwar freier gestalten können, aber eben auch leichter einer Entgrenzung von Arbeit und Leben anheimfallen; es geht um die Herausforderung, neue Zielgruppen zu gewinnen – etwa die anspruchsvolle, eher individualistisch eingestellte "Generation Z"; es geht um die wachsende Relevanz von hochqualifizierten und außertariflich Beschäftigten; es geht um Werte, Wertschöpfungsketten, die künftige Rolle des Sozialstaats. Kurz: um eigentlich fast alles, was Gewerkschaft zukünftig auf dem Schirm haben muss, um Handlungsfähigkeit zu behaupten.

Am zweiten Kongresstag geht es in der "Tool Time" schließlich um taugliche Werkzeuge für den Wandel. Welche Instrumente braucht die IG BCE künftig für die Mitgliedergewinnung? Was ist erforderlich, um die Rolle von Betriebsräten und Vertrauensleuten weiter zu stärken? Wie muss Tarifpolitik weiterentwickelt werden, um gute Arbeit auch im immer schnelleren, immer tiefergehenden Wandel zu sichern? Wie muss Mitbestimmung im digitalen Wandel, im Zeitalter der Herrschaft von Algorithmen und künstlicher Intelligenz, weitergedacht werden – und andersherum: Wie kann die IG BCE die Möglichkeiten der Digitalisierung ihrerseits nutzen, um mehr Reichweite und Effektivität zu erzielen? "All diese Werkzeuge gilt es weiter zu schärfen und auf die Zukunft auszurichten", sagt Francesco Grioli, Mitglied im geschäftsführenden Hauptvorstand der IG BCE, bei seiner einführenden Rede zur Debatte um die Zukunftsinstrumente. Zugleich, mahnt Grioli, sei dies nur möglich, wenn der Mut bestehe, "auch unangenehme Zielkonflikte zu beschreiben". Beispielhaft fragt Grioli, der für die IG BCE unter anderem Digitalisierungsthemen verantwortet, ins gebannt lauschende Publikum: "Wenn wir immer mehr Power in die Kommunikation über die sozialen Medien, die digitalen Kanäle investieren – wie können wir gleichzeitig dafür sorgen, dass unsere Gesprächskultur gut bleibt?"

Das Beispiel macht deutlich, welch filigrane Balanceakte der IG BCE als Institution mit gewachsener Kultur und zugleich großem Vorwärtsdrang auch in Zukunft bevorstehen werden. Und so ist bei allen Reden, bei allen Workshops, bei allen kühnen Zukunftsausblicken doch immer auch im Bewusstsein: Die IG BCE muss nicht nur nach vorn schauen – sie darf sich auch mit einigem Stolz ihres Erbes, ihrer Werte, ihrer Kultur, kurz: ihrer eigenständigen DNA versichern und daran festhalten.

Auch der IG-BCE-Vorsitzende unterstreicht in seiner Abschlussrede, dass die IG BCE bei aller Notwendigkeit zur Modernisierung ihrem Markenkern stets treu bliebe, denn aus ihm beziehe die Gewerkschaft ihre Stärke: "In der IG BCE steckt ungeheuer viel Engagement und Kreativität – gerade wenn es darum geht, Zukunft zu gewinnen. Wir haben allen Grund, das mit Mut und Freude anzugehen", ermuntert Michael Vassiliadis die Delegierten.

Die Lust, Zukunft zu gewinnen, ist an diesen zwei Novembertagen in Essen allenthalben spürbar. Die Arbeitsatmosphäre ist intensiv, die Diskussionsfreudigkeit ebenso groß wie der Ideenreichtum. Schnell bekommen die Moderatoren an den Stellwänden Schwierigkeiten, für die vielen Kärtchen mit immer neuen Vorschlägen und Anregungen aus den Gruppen noch ein Plätzchen zu finden. Susmit Jens Banerjee jedenfalls ist sichtlich begeistert vom Zukunftskongress: "Das hier ist für mich definitiv die beste von vielen sehr guten IG-BCE-Veranstaltungen, die ich bislang erlebt habe!", lobt der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende bei Shell in Hamburg. Vermutlich spricht er damit vielen, sehr vielen Anwesenden aus dem Herzen.

Eine Zusammenfassung vom Zukunftskongress