Tausende Beschäftigte demonstrierten am 9. März bei einem bundesweiten Aktionstag für einen fairen Industriestrompreis. Denn die im internationalen Vergleich hohen Strompreise gefährden Deutschlands energieintensive Industrien: Arbeitsplätze sind in Gefahr, es drohen Standortschließungen. Die IGBCE hält dagegen.
Mehrere hundert Beschäftigte gingen in Neuss beim Aktionstag für einen wettbewerbsfähigen Industriestrompreis auf die Straße.
Im ganzen Land gingen tausende Beschäftigte auf die Straße und setzten sich für einen fairen, international wettbewerbsfähigen Industriestrompreis ein. Die IGBCE hatte zusammen mit der IG Metall und der IG BAU am 9. März zu einem bundesweiten Aktionstag Industriestrompreis aufgerufen. Dem folgten branchenübergreifend tausende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, es gab dutzende große und kleinere Demonstrationen und Kundgebungen. Allein im Bezirk Augsburg protestierten beispielsweise rund 700 Beschäftigte, an einer gemeinsamen Kundgebung der IGBCE-Bezirke Düsseldorf und Niederrhein beteiligten sich rund 400 Menschen.
„Die Branchen der IGBCE – seien es Chemie, Metalle, Glas oder Papier – haben einen besonders hohen Energiebedarf. Gleichzeitig stehen sie am Anfang nahezu aller industriellen Wertschöpfungsprozesse“, sagte der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis dazu. Er warnte: „Wenn sie aufgrund hoher Stromkosten Anlagen schließen und Produktion verlagern, ist das der erste Schritt zur Deindustrialisierung Deutschlands. Es braucht jetzt schnell und über die akute Energiekrise hinaus einen Industriestrompreis, der sich auf Augenhöhe mit denen anderer Weltregionen bewegt“, so der Gewerkschaftschef. Dieser Industriestrompreis sei die „Grundvoraussetzung für eine sozial und wirtschaftlich erfolgreiche Transformation unserer Industriegesellschaft in Richtung Klimaneutralität.“
Der Hintergrund: Seit Beginn der Energiekriese hat sich der Börsenstrompreis in Deutschland mehr als versiebenfacht – von 30 Euro pro Megawattstunde im Jahr 2020 auf 235 Euro in 2022. Damit liegt Deutschland im europäischen Vergleich an der Spitze. Bleiben die Preise im internationalen Vergleich so hoch, stehen die energieintensive Industrien in Deutschland – darunter vor allem IGBCE-Branchen wie Chemie, Glas, Keramik oder Papier - nach Überzeugung der Gewerkschaften mittel- bis langfristig vor dem Aus. IGBCE; IG Metall und IG BAU warnen deshalb vor einem Kaskadeneffekt: Wenn es nicht gelinge, die Grundstoffindustrie in Deutschland zu halten und dabei geschlossene Wertschöpfungsnetzwerke hierzulande zu stärken, werde das dramatische Auswirkungen auf den gesamten Industriestandort und damit auf die Arbeitsplätze im Land haben – weit über die direkt betroffenen Branchen hinaus.
Zudem gefährden zu hohe Stromkosten die Transformation hin zu einer klimaneutralen Produktionsweise, die massive Investitionen erfordert. Hier besteht die realistische Gefahr, dass diese strategischen Investments in grüne Technologie in Industrieländer mit günstigeren Strompreisen abwandern – die Arbeitsplätze der Zukunft entstünden dann dort und nicht in Deutschland. Um diese Jobs zu sichern, müssten noch 2023 weitere Schritte hin zu einem staatlich regulierten und international wettbewerbsfähigen Industriestrompreis eingeleitet werden.
Video: IGBCE Bezirk Köln-Bonn
Die IGBCE-Bezirke Düsseldorf und Niederrhein hatten zu einer gemeinsamen großen Kundgebung beim Aluminiumhersteller Speira in Neuss aufgerufen. Rund 400 Beschäftigte aus den IGBCE-Branchen Aluminium, Chemie und Papier folgten der Einladung.
„Der Überfall auf die Ukraine hat die Karten neu gemischt“, sagte Natalie Mühlenfeld, Bezirksleiterin im IGBCE-Bezirk Düsseldorf. Zahlreiche Betriebe seien von der aktuellen Situation betroffen. Vielerorts werde die Produktion gedrosselt. So wie im Rheinwerk von Speira. Dort hatte die Arbeitgeberseite kurz vor der Veranstaltung verkündet, die Transformation zu einem reinen Verarbeiter und Recycler von Aluminium beschleunigen zu wollen. Demnach soll die Hütte im Rheinwerk vollständig heruntergefahren werden. 300 Arbeitsplätze sind betroffen. „Die Entscheidung der Arbeitgeber, die Primäraluminiumerzeugung komplett dichtzumachen, hat mich tief berührt und fassungslos gemacht. In der Region ist der Standort fest verankert und blickt auf eine lange Tradition“, sagte Mühlenfeld. Die Nachricht unterstreiche auf dramatische Weise, wie ernst dieses Thema sei. Die Entwicklung bei Speira dürfe nicht zulasten derer gehen, die hier über viele Jahre eine tragende Säule des Unternehmens waren. „Wir erwarten einen gerechten Umgang mit den von der Umstrukturierung betroffenen Kolleginnen und Kollegen und keine Entlassungen.“ Das Unternehmen will eigenen Angaben zufolge freiwillige Lösungen für die entsprechenden Beschäftigten finden. „Wir stehen an eurer Seite und kämpfen um jeden einzelnen Arbeitsplatz, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deswegen brauchen wir schnellstmöglich einen wettbewerbsfähigen Industriestrompreis!“, sagte auch Rolf Langhard, Betriebsratsvorsitzender bei Speira während der Kundgebung.
Der Ernst der Lage war auch bei der Kundgebung vor den Werktoren bei Speira in Neuss spürbar. Mehr als 400 Beschäftigte folgten dem Ruf der Gewerkschaften, um ihren Unmut über die aktuellen Entwicklungen in der energieintensiven Industrie zum Ausdruck zu bringen. Mit Fahnen und Plakaten bewaffnet machten sie deutlich, dass es so nicht weitergehen kann. „Wir brauchen Planungssicherheit“, sagte einer der Anwesenden. Für die Kolleginnen und Kollegen stehe zu viel auf dem Spiel, als dass die Politik den Industriestandort Deutschland so leichtfertig schwächen dürfe. „Wenn hier Stellen gestrichen werden, betrifft das nicht nur die Beschäftigten, sondern in der Regel auch ihre Familien“, warnte der Kollege.
Die Politik muss laut Mühlenfeld jetzt die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass „industrielle Wertschöpfung in unserem Land eine Zukunft hat“. Entwicklungen wie im Rheinwerk seien ein mahnendes Beispiel dafür, was passieren könne. Deutschlandweit gehe es um Hunderttausende weitere Arbeitsplätze. „Wir werden alles versuchen, um die weitere Deindustrialisierung abzuwenden und unsere Wertschöpfungsketten zu erhalten. Die Unternehmen müssen sich im Gegenzug zum Standort Nordrhein-Westfalen bekennen.“
Ralf Kruska von Essity in Neuss
In Brunsbüttel sprachen Vertreter aus Industrie und Politik vor rund 200 Demonstrierenden. IGBCE-Landesbezirksleiter Ralf Becker sagte: „Wir sind der Motor der Energiewende und der Transformation in Deutschland. Deswegen müssen wir raus aus der Komfortzone, deshalb stehen wir hier in der Öffentlichkeit. Nicht am Werkstor, sondern auf dem Rathausplatz.“ Die Politiker hörten den Ruf: Landrat Stefan Mohrdieck warb für den Abbau zu starker Regulierungen, die „Investitionen und Transformation verhindern“ können. Der Norden solle zudem nicht nur Ort der Stromerzeugung sein: „Die Wertschöpfung muss hier stattfinden.“ Außerdem brachte er die Westküste als „Modellregion für die Erprobung eines Industriestrompreises“ ins Gespräch.
Thomas Brinkmann von Covestro sprach nicht nur vom im globalen Vergleich sehr hohen Strompreis. Bürokratie und zu lange Entscheidungswege erschwerten es den Unternehmen zusätzlich, zu planen und zu investieren. „Wir wollen die Unternehmen grün machen. Aber das können wir nicht, wenn sie tot sind“, zitierte Brinkmann den IGBCE-Vorsitzenden Michael Vassiliadis.
Der Demonstration bei Currenta am ChemPark Uerdingen hatten sich mehr als 250 Beschäftigte angeschlossen. Lautstark richtete sich der Unmut an die unverständliche Haltung der Politik. „Ohne bezahlbaren Strom gehen im ChemPark schneller die Lichter aus, als wir gucken können“, sagt der Currenta-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Detlef Rennings. „Wir sind ein Verbundstandort und wenn hier einer aus der Kette ausbricht, fliegt uns das ganze System um die Ohren.“ Auch bei den Auszubildenden ist der Unmut groß. Sie sorgen sich um ihre beruflichen Perspektiven. „Ich mache meine Ausbildung hier, weil ich bisher davon ausgegangen bin, hier die Aussicht auf einen sicheren Arbeitsplatz zu haben“, sagte Erva Celik. Ihre Freundin und Kollegin Merve Sahingoez pflichtet ihr bei: „Wir wollen langfristige Planungssicherheit haben.“
Zahlreiche Betriebe sind von der aktuellen Situation betroffen. Vielerorts wird die Produktion gedrosselt. „Die Politik muss jetzt die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass industrielle Wertschöpfung in unserem Land eine Zukunft hat“, erklärte Matthias Jakobs, Bezirksleiter im IGBCE-Bezirk Niederrhein. Es gehe um Hunderttausende Arbeitsplätze, so Jakobs. „Wir werden alles versuchen, um eine Deindustrialisierung abzuwenden und unsere Wertschöpfungsketten zu erhalten. Die Unternehmen müssen sich im Gegenzug zum Standort Nordrhein-Westfalen bekennen.“ Damit dies gelinge, bedarf es laut Jakobs unter anderem ein Industriestrompreis von vier bis Cent pro Kilowattstunde. Nur so sei es den energieintensiven Betrieben möglich, wieder wettbewerbsfähig zu produzieren.
Sichtlich beeindruckt war Jakobs vom großen Interesse an der Veranstaltung vor Ort „Das zeigt, dass das Thema bei den Beschäftigten angekommen ist. Sie spüren, dass Investitionsentscheidungen zurückgehalten oder wieder abgeräumt werden, bestehende Anlagen runtergefahren werden. Das verunsichert die Kolleginnen und Kollegen“, so Jakobs.
Petra Krohnen, Vorsitzende des Covestro-Gesamtbetriebsrats
Detlef Rennings, GBR-Vorsitzender bei Currenta
Die Kundgebung in Meitingen (Bezirk Augsburg) am Standort der Lech-Stahlwerke, Bayerns einzigem Stahlwerk und nach eigener Aussage größtem Recyclingunternehmen, war eine von 40 im gesamten Bundesgebiet. Vor rund 700 Beschäftigten aus der Chemie- und Stahlindustrie sowie im Beisein des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) forderten die Gewerkschaften im Schulterschluss auch mit der Arbeitgeberseite die Einführung eines Industriestrompreises, noch in 2023.
„Bezahlbarer Strom ist ein unverzichtbarer Baustein, um die Transformation erfolgreich zu meistern sowie für Standort- und Beschäftigungssicherung“, betonte Torsten Falke. In Richtung der bayerischen Staatsregierung forderte der Leiter des IGBCE-Bezirks Augsburg „mehr energiepolitische Weitsicht der Landesregierung“. Er erinnerte daran, dass im Großraum Augsburg allein knapp 3.000 Arbeitsplätze in den Industrieparks in Bobingen und Gersthofen sowie in der Papierindustrie gefährdet seien.
„Versorgungssicherheit mit Energie und hohe Energiepreise sind momentan die elementaren Themen für den Industriestandort Deutschland und natürlich auch für uns Arbeitnehmer*innen“, so Torsten Falke. Es brauche einen „Genehmigungsbooster“, also deutlich beschleunigte Genehmigungsverfahren für Stromtrassen, Stromspeicher und den Ausbau der erneuerbaren Energien.
Der Protestzug der IGBCE in Uerdingen mit Beschäftigten aus der Aluminium-, Chemie- und Papier-Branche auf dem Weg zur Kundgebung.
Foto: © Frank RognerRund 400 Beschäftigte von unterschiedlichen Unternehmen beteiligten sich an der Kundgebung zum Aktionstag Industriestrompreis in Neuss. Auch dutzende Kolleginnen und Kollegen von Evonik waren dabei.
Foto: © Frank RognerKundgebung in Neuss
Foto: © Frank RognerKundgebung in Brunsbüttel
Foto: © Cordula KropkeBeschäftigte in Brunsbüttel
Foto: © Cordula KropkeKundgebung in Uerdingen
Foto: © Frank RognerKundgebung in Uerdingen
Foto: © Frank RognerIGBCE-Hauptvorstandsmitglied Petra Kronen spricht bei der Kundgebung in Uerdingen
Foto: © Frank RognerAktion bei Wessling. Das Umweltlabor selbst kann die Strompreise zwar stemmen, allerdings stammt ein Teil der Kunden aus der Industrie und ist auf günstige Strompreise angewiesen um die Produktion in Deutschland zu halten..
Eine Aktion von Beschäftigten der Deutschen Steinzeug Cremer und Breuer in Alfter-Witterschlick (Bezirk Köln-Bonn).
Foto: © IGBCE-Bezirk Köln-BonnAuch bei Etex Exteriors im Bezirk Nordwestfalen gab es eine Aktion der Belegschaft.
Foto: © Bezirk NordwestfalenDer Bezirk Gelsenkirchen machte auch mit.
Foto: © Norman Schulten