Tendenzen Arbeitszeit

Das lange Ringen um die Arbeitszeit

Die heutigen Arbeitszeitbestimmungen sind hart erkämpft. Vor 111 Jahren gab es die erste gesetzliche Regelung zum Schutz der Arbeitnehmer. Die Bedingungen sind seitdem kontinuierlich besser geworden, aber der Kampf um gerechte Arbeitszeiten ist längst noch nicht beendet. Auch wegen des Wandels der Arbeit durch die Digitalisierung. 

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Stefan Soltmann freut sich über das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeiterfassung. „Aus arbeits- und betriebspolitischer Sicht ist es genau das, was wir wollen“, sagt der Leiter der Abteilung Mitbestimmung in der Hauptverwaltung der IG BCE. Das Urteil verpflichtet Arbeitgeber, die gesamte Arbeitszeit ihrer Beschäftigten zu erfassen, nicht nur die Überstunden: „Wir wollen Transparenz herstellen und Entgrenzung sichtbar machen. Außerdem macht es klar, dass man dem Arbeitgeber Arbeitszeit schuldet, nicht Leistung. Das ist ein wichtiges politisches Signal.“

Was und wie viel dem Arbeitgeber zusteht, bleibt umstritten.  Auseinandersetzungen allein um die Länge der Arbeitszeit durchziehen die Geschichte der Gewerkschaften wie ein roter Faden. Vor 200 Jahren betrug die durchschnittliche Arbeitszeit in der Industrie gut 80 Stunden die Woche. Ab 1908 galt ein gesetzlicher Normalarbeitstag von zehn Stunden, seit 1919 eine 48-Stunden-Woche mit sechs Arbeitstagen. Damit wurde der Achtstundentag zur Norm, für den Beschäftigte weltweit seit dem 1. Mai 1886 auf die Straße gegangen waren. Heute schreibt das Arbeitszeitgesetz den Achtstundentag vor. Der kann nur dann auf bis zu zehn Stunden verlängert werden, wenn die Überstunden innerhalb von sechs Monaten ausgeglichen werden.

“Wir haben mit den Arbeitgebern um die Arbeitszeit gerungen“, sagt Andreas Henniger, Leiter der Tarifrechtsabteilung in der Hauptverwaltung der IG BCE. „In den ersten Tarifverträgen nach 1945 war beispielsweise in der Chemieindustrie die Sechstagewoche noch normal. Das waren 48, im Schichtbetrieb oft sogar 50 Stunden Arbeit. Die Arbeitszeiten waren genau festgelegt, Ausgleich gab es noch 1954 nur in der folgenden Woche.“ Zwischen 1960 und 1993 hat sich in den von Arbeitgebern und Gewerkschaften ausgehandelten Tarifverträgen der Chemieindustrie die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 44 auf 37,5 Stunden verkürzt. Großen Anteil daran hatten die Auseinandersetzungen um die 35-Stunden-Woche seit den 1970er Jahren. Damit antworteten die Gewerkschaften auf Massenentlassungen aufgrund der Wirtschaftskrise, aber auch als Folge der technischen Entwicklung.

Auch die Vorläuferin der IG BCE, die IG Chemie-Papier-Keramik, wollte 1976 mit der 35-Stunden-Woche und einem Jahresurlaub von sechs Wochen Arbeitsplätze sichern. Die Urlaubsverlängerung wurde tatsächlich bis 1984 erreicht. „Der Preis dafür war allerdings die Festschreibung der 40-Stunden-Woche “, heißt es in der Chronik „100 Jahre Industriegewerkschaft Chemie-Papier- Keramik“ von 1990.
Während Gewerkschaften in der Metall- und Druckindustrie, wo erheblicher Rationalisierungsdruck herrschte, Mitte der 1980er Jahre für die 35-Stunden- Woche in den Streik gingen, einigten sich die Sozialpartner in der Chemieindustrie auf flexible Lösungen für einzelne Gruppen. 

In der alten Bundesrepublik haben sich die Tarifparteien auf Entlastung für Ältere statt einer 35-Stunden-Woche für alle verständigt: Sogenannte Altersfreizeiten für Beschäftigte ab 58 Jahren wurden 1983 erstmals eingeführt. Sie konnten ihre Arbeitszeit von 40 auf 36 Stunden wöchentlich verringern. Mit der Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf 37,5 Stunden für alle wurden die Altersfreizeiten so angepasst, dass Arbeitnehmer ab 57 Jahren eine 35-Stunden- Woche haben.

“In den neuen Bundesländern galt zur Wiedervereinigung noch die 40-Stunden-Woche. Dort haben wir ab 2013 mit dem Tarifvertrag zur lebensphasengerechten Arbeitszeitgestaltung Vergünstigungen für besonders belastete Arbeitnehmer erreicht“, erklärt Andreas Henniger. „Dafür wird eine Stunde der Arbeitszeitdifferenz aufgewandt.“ Für die verbleibende Differenz von eineinhalb Stunden gibt es seit 2018 für die chemische Industrie Ost das „Potsdamer Modell“: Auf Betriebsebene kann eine Arbeitszeit zwischen 32 und 40 Stunden vereinbart werden. „Das ist besonders für Arbeitnehmer im Schichtbetrieb interessant“, erklärt Henniger. „Die müssen so bei einem Fünfschichtsystem und 33,6 Wochenstunden keine zusätzlichen Schichten mehr einbringen. Einigen sich die Betriebsparteien nicht, wird die Wochenarbeitszeit bis 2023 in drei Schritten bis zur 38,5-Stunden-Woche angepasst.“

Für die Tarifpolitik ergeben sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs keine großen Änderungen, sagt Andreas Henniger: „Tarifverträge setzen die Erfassung der Arbeitszeit immer schon voraus; auch die Vergütung wird ja nach der Arbeitszeit bemessen.“ Angepasst werden müsse das Arbeitszeitgesetz, das bisher nur die Erfassung von Überstunden vorschreibt. „So kann man nachvollziehen, was in vernünftigen Betrieben sowieso geregelt wird“, sagt Henniger. „Und es gilt auch für die Vertrauensarbeitszeit. Eine neue Ausrichtung brauchen nach Einschätzung von Stefan Soltmann Betriebsvereinbarungen über mobiles Arbeiten: „Wegen der technischen Entwicklung arbeiten immer mehr Menschen unterwegs oder zu Hause. Für sie muss die Arbeit selbst klar definiert werden, damit sie zeitlich erfasst werden kann, auch ihre Grauzonen. Technisch ist das kein Problem. Allerdings müssen wir auch dafür sorgen, dass bei der Art der Erfassung der Datenschutz gewährleistet wird.“

Umstritten ist der außertarifliche Bereich. Höherqualifizierte wollen oft selbst an ihrer Leistung gemessen werden und zählen die Stunden absichtlich nicht; dafür sorgt schon der Konkurrenzdruck untereinander. Solche Fälle gebe es zum Beispiel in der Forschung und Entwicklung, weiß Andreas Henniger, wo viele Beschäftigte außertariflich bezahlt werden. Auch junge Kolleginnen und Kollegen fühlten sich durch einen Arbeitszeitrahmen zunächst eher eingeschränkt. „Sie stehen der Gewerkschaft nicht automatisch nahe, aber mit diesem Thema besteht die Möglichkeit, auch diese Beschäftigtengruppen für die IG BCE zu gewinnen“, hofft Stefan Soltmann. Schließlich drohe die Gefahr zu hoher Belastung auch ihnen. Andreas Henniger ist optimistisch: „Als Gewerkschaft haben wir durch das Urteil jetzt einen Ansatzpunkt.“