Wird ein Betrieb durch die Arbeitsschutzbehörden der Länder oder des technischen Aufsichtsdienstes der Unfallversicherungsträger kontrolliert, werden die Anforderungen dieser Regeln als Maßstab genommen.
Karin Erhard, Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstands der IG BCE, betont: „Das ist insgesamt ein Erfolg der gemeinsamen politischen Arbeit von IG BCE und DGB. Bisher fehlte es in der gesamten Viruskrise an verbindlichen Vorgaben für die Umsetzung des Arbeitsschutzes unter Corona-Bedingungen.“ Dieser Zustand sei jetzt beendet. Und das obwohl Teile der Arbeitgeberseite bis zuletzt versucht hätten, diese Regel zu blockieren. „Sie haben damit mehr als deutlich gemacht, dass sie lieber einen zweiten Lockdown der Wirtschaft riskieren als verbindliche Arbeitsschutzregeln zu akzeptieren“, so Erhard.
Sie unterstreicht, dass die nun vorliegende Regelung für die IG BCE ein klassischer Kompromiss sei: „Zwar ist vieles auf Druck der Arbeitgeber vage und unkonkret geblieben, allerdings können unsere Betriebsrätinnen und Betriebsräte jetzt endlich mit den Arbeitgebern über die konkrete Umsetzung der Schutzmaßnahmen im Betrieb verhandeln.“
Denn das Papier enthält viele „Kann“- und „Soll“-Regelungen. So werden Ausführungen zum Tragen von Mund-Nase-Schutzmasken (MNS-Masken) getroffen, die auf bisher noch nicht belegten Annahmen beruhen. Zudem wird die Belastung durch das permanente Tragen nicht durch zusätzliche Tragepausen gewürdigt. Eine präzise Vorgabe für den Qualitätsstandard von Masken fehlt ebenfalls.
Mit Blick auf das Abstandsgebot finden sich in den Arbeitsschutzregeln auch Abweichungen von der Abstandswahrung von mindestens 1,5 Metern. Auch die dazu genutzte Begrifflichkeit „betriebstechnische Gründe“ bleibt völlig ungeklärt.
Warum sind die Arbeitsschutzregeln als Erfolg zu bewerten?
Bisher gab es nur seit Mitte April die Arbeitsschutzstandards des BMAS, die relativ weiche Rahmenvorgaben für die Beachtung des Arbeitsschutzes in den Betrieben vorgaben. Diese Arbeitsschutzstandards der Bundesregierung erfüllen nach Auffassung erster Entscheidungen der Rechtsprechung nicht die Anforderungen an eine Maßnahme des Gesundheitsschutzes i.S.v. § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG und sind nicht rechtsverbindlich. Die Betriebsräte konnten sich somit nicht auf die Arbeitsschutzstandards berufen, um betriebliche Regelungen zum Arbeitsschutz mit Blick auf den Corona-Virus zu initiieren. Die Arbeitsschutzregeln hingegen sind von den fünf staatlichen Arbeitsschutzausschüssen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales erarbeitet worden. Es gibt folgende fünf Ausschüsse: Arbeitsmedizin, Arbeitsstätten, Betriebssicherheit, Biologische Arbeitsstoffe und Gefahrstoffe. In jedem der Ausschüsse sind Vertreter*innen der Gewerkschaften, Arbeitgeber, Länderbehörden, gesetzlichen Unfallversicherung und Wissenschaft gleichermaßen vertreten. Alle Ausschüsse haben über die Regel abgestimmt und ihr zugestimmt. Das BMAS hat nach einer rechtsförmlichen Prüfung die Regel im Gemeinsamen Ministerialblatt veröffentlicht.
Eine technische Regel hat „Tradition“ im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Sie dient der näheren Ausgestaltung der Bestimmungen einer Verordnung. Sie beschreibt die konkreten Anforderungen an den Arbeitgeber. Eine technische Regel entfaltet eine Vermutungswirkung, das heißt dass der Arbeitgeber, sofern er die Anforderungen der Regel erfüllt, davon ausgehen kann, die Bestimmungen der Verordnung einzuhalten. Im Falle einer Kontrolle des Betriebs durch die Arbeitsschutzbehörden der Länder oder des technischen Aufsichtsdiensts der Unfallversicherungsträger werden die Anforderungen der Regel als Maß-stab genommen. Die technischen Regeln stellen folglich ein „Mehr“ dar und eröffnen einen Verhandlungsspielraum für die Betriebsräte.
Warum hat das so lange gedauert?
Seit April wird in den Ausschüssen über diese Arbeitsschutzregel verhandelt. Idealerweise hätten wir diese Regeln Mitte Mai benötigt, als die Bundes- und Landesregierungen deutschlandweit die Corona-Maßnahmen wieder gelockert haben und die Beschäftigten wieder vermehrt in die Betriebe zurückkehrten. Während in der Chemie- und Pharmabranche schon sehr frühzeitig Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten eingeleitet worden sind und die Neuregelungen begrüßt worden sind, stellten sich die Arbeitgeber in anderen Branchen „quer“ gegen die Versuche Leitplanken für gesunde Arbeit in den Betrieben in Zeiten von Corona zu schaffen. Die Verhandlungen zogen sich bis zum heutigen Tag und verlangten den Gewerkschaften eine hohe Kompromissbereitschaft ab, um überhaupt zum Ziel der Veröffentlichung einer technischen Regel zu gelangen.
Welche Kritikpunkte gibt es aus Sicht der Gewerkschaften an der Arbeitsschutzregel?
Kritisch ist aus Sicht der Gewerkschaften anzumerken, dass die Möglichkeiten einer Technischen Regel nicht ausgeschöpft worden sind. Statt Klarheit in den Regeln zu schaffen, ist durch häufige „Kann“- und „Soll“-Regelungen die Ausgestaltung der konkreten Arbeitsschutzmaßnahmen auf die Betriebsparteien übertragen worden. Diese müssen sich jetzt im Rahmen des § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG einigen, welche Regelungen aus der Arbeitsschutzregel im Einzelfall auf sie Anwendung finden. Zumindest ist der Gestaltungsspielraum aber jetzt für die Betriebsräte eröffnet.
Die Ausführungen zum Tragen von Mund-Nase-Schutzmasken (MNS-Masken) treffen Annahmen in der Frage der Wirksamkeit des Infektionsschutzes, die noch nicht abschließend wissenschaftlich belegt sind und zudem wird die Belastung durch permanentes Tragen von MNS-Masken nicht durch Tragepausen gewürdigt. Eine präzise Vorgabe für den Qualitätsstandard von Masken hätte es benötigt, aber auch diese Vorgaben gingen der Arbeitgeberseite zu weit. Wir empfehlen weiterhin, dass die Masken eine CE-Zertifizierung aufweisen sollten.
Mit Blick auf die wesentliche Regelung, das Abstandsgebot, finden sich in den Arbeits-schutzregeln auch Öffnungen von der Abstandswahrung von mind. 1,5 m aus betriebstechnischen Gründen abzuweichen. Dabei ist die Begrifflichkeit „betriebstechnische Gründe“ völlig ungeklärt. Zudem ist von sog. Kurzzeitkontakten die Rede, bei denen ein geringeres Infektionsrisiko besteht. Diese werden herangezogen, um weniger Arbeitsschutzmaßnahmen durchführen zu müssen. Allerdings wird hier bereits jeder Kontakt unterhalb von 15 Minuten hinzugezählt, was der Vielzahl an Konstellationen eines 15-minütigen Kontakts überhaupt nicht Rechnung trägt.
Hilfreich wäre es auch gewesen, die Anwendbarkeit von Hygiene- und Reinigungsplänen außerhalb der klassischen Branchen der Biostoffverordnung (BioStoffV) in den Regeln zu erläutern und für eine Handhabbarkeit zu sorgen.
Bereits jetzt drängende Fragen wie der Umgang mit der Tracing-App in den Betrieben sowie der Einordnung von Corona-Erkrankungen als Berufskrankheiten waren in diesem Verfahren nicht mehr verhandelbar.
Was ist positiv an der Arbeitsschutzregel?
Die Betriebsräte können jetzt evtl. fehlende Regelungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz in Zeiten von Corona initiieren, § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG. Die vielen „Soll“ und „Kann“-Regelungen liefern gleichzeitig auch Gestaltungsspielraum für die Betriebsräte. Dafür sind die Gefährdungsbeurteilungen in den Betrieben auf die aktuelle Situation zu überprüfen. Das TOP-Prinzip, das heißt vorrangig technische vor organisatorischen vor persönlichen Schutzmaßnahmen durchzuführen, ist zu beachten und somit können die MNS-Masken nur letztes Mittel der Wahl sein. Auch müssen alle Betriebe ein Hygienekonzept aufweisen, um die Übertragungsquellen für das Coronavirus weiter zu minimieren. Das sind schon wichtige Anhaltspunkte aus den Arbeitsschutzregeln, die für die Umsetzung einer sicheren Arbeitswelt in den Unternehmen genutzt werden können. Dafür hat sich das monatelange Ringen um die Arbeitsschutzregel gelohnt.
Wie kann der Arbeitgeber aufgefordert werden, die Maßnahmen aus der Arbeitsschutzregel umzusetzen?
Zunächst hat der Betriebsrat die Möglichkeit, die Umsetzung der Arbeitsschutzregel in den Betrieben nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG zu initiieren. Dafür sollten zunächst die Gefährdungsbeurteilungen für alle Arbeitsbereiche im Hinblick auf die Arbeitsschutzregel auf den Prüfstand gestellt werden. Sollten die Maßnahmen des Arbeitgebers eher schleppend verlaufen, kann der Betriebsrat hierüber das Gespräch mit dem Arbeitgeber ergreifen. Kommen die Verhandlungen zum Stillstand, gibt es die Möglichkeit kurzfristig die Einigungs-stelle anzurufen.