Tarifrunde #chemie22

Bereit zum Brücken bauen

Der Krieg in der Ukraine und seine Folgen lasten schwer auf den Tarifverhandlungen in der chemischen Industrie. Die Tarifpartner sind jetzt doppelt in der Verantwortung: Sie müssen eine Lösung finden, die der unsicheren ökonomischen Lage ebenso gerecht wird wie dem berechtigten Wunsch der Menschen nach Kaufkraftsteigerung. 

Forderungsbeschluss Bereit zum Brücken bauen
Foto: © Nicole Strasser

Die Situation könnte widersprüchlicher nicht sein. Wenn wir am 21. März in die Chemie-Tarifverhandlungen auf Bundesebene starten, dann sehen wir im Rückspiegel strahlenden Sonnenschein. Die Branche hat ein Jahr mit Rekordgewinnen hinter sich, plant Rekordausschüttungen an ihre Aktionär*innen und mitunter sogar Aktienrückkäufe, weil sie nicht weiß, wohin mit dem Geld. 

Doch der Blick durch die Frontscheibe ist neblig und düster wie lange nicht mehr. Der völkerrechtswidrige Krieg in der Ukraine hat die ohnehin schon angespannte Rohstoffsituation endgültig vor den Kollaps gebracht. Das zeigt sich nicht nur in explodierenden Preisen. Niemand kann sagen, wie lange die energieintensive Chemieindustrie in Deutschland überhaupt noch Gas aus Russland beziehen wird. 

Die Folgen eines – egal von welcher Seite – verhängten Lieferstopps wären fundamental: gewaltige Anlagen, die für unabsehbare Zeit heruntergefahren werden müssten, Beschäftigte in Kurzarbeit, die gesamte Lieferkette vor dem Riss. Denn ohne die Chemie – wer weiß das besser als unsere Leute – ist in der deutschen und europäischen Industrie alles nichts. 

In einer solchen Situation Tarifverhandlungen zur führen, wird eine Herausforderung der besonderen Art. Zumal für die 580.000 Beschäftigten der Branche schon der Blick in den Rückspiegel keinesfalls sonnig ausfällt. Seit Herbst nimmt die Inflationsrate einen Rekord nach dem anderen, hat die Teuerungswelle längst alle Lebensbereiche erfasst. Und nun kommen die Preiseffekte des Krieges obendrauf. 

Die Beschäftigten in der chemisch-pharmazeutischen Industrie erleben zweierlei: Rekordinflation im eigenen Portemonnaie und Rekordgewinne ihrer Arbeitgeber – die übrigens einen maßgeblichen Teil zur Inflation beigetragen haben. Schließlich konnten sie ihre Preissteigerungen auf der Beschaffungsseite in den vergangenen Monaten einfach an ihre Kunden durchreichen. Ein Beispiel: Allein der Branchenführer BASF hat im vergangenen Jahr seine Preise um im Schnitt 25 Prozent erhöht. 

Diese ungute Konstellation bringt uns Tarifparteien jetzt doppelt in die Verantwortung: Wir müssen eine Lösung finden, die der unsicheren ökonomischen Lage ebenso gerecht wird wie dem berechtigten Wunsch der Menschen nach Kaufkraftsteigerung. Wir haben immer gesagt, dass es jetzt eines gesamtgesellschaftlichen Bollwerks gegen die Inflation bedarf. Da sind nicht nur Politik und Notenbank gefragt, sondern auch die Arbeitgeber. Die müssen ihren Teil zur finanziellen Entlastung ihrer Beschäftigten beitragen. Das ist und bleibt unsere zentrale Forderung in dieser Tarifrunde. 

Auch die Forderungen, Schichtarbeit durch höhere Zuschläge aufzuwerten, Ausbildungszahlen nach den Corona-Einbrüchen wieder zu steigern und mobile Arbeit ordentlich zu regeln, bleiben richtig und wichtig. Es sind notwendige Zukunftsinvestitionen einer Branche, die zwingend und dringend an ihrer Attraktivität als Arbeitgeberin arbeiten muss. Und dazu bedarf es klarer Signale der Wertschätzung. 

So gibt es zum Start dieser Verhandlungen wenigstens eine Konstante: Die IGBCE bringt einen einstimmigen Mitgliederauftrag, das gewohnte Selbstvertrauen und ihren sprichwörtlichen Realismus mit. Wir wissen nicht, ob wir uns auf ein konjunkturelles Horrorszenario einstellen müssen oder es zu einer schnellen wirtschaftlichen Normalisierung kommt. Deshalb sind wir im Zweifel auch bereit, eine Brücke zu bauen über das Tal der Unsicherheit. 

Die Frage ist, ob die Arbeitgeberseite ähnlich entscheidungsfreudig und -fähig ist. Laute Lamentos von Manager*innen mit Millionensalären haben wir genug gehört. Handeln ist gefragt. Wir werden sie jedenfalls daran messen, wenn wir wirklich in ein massives Bedrohungsszenario kommen sollten. 

Denn dann erwarten wir, dass die Unternehmen nicht nur über Lohnsteigerungen klagen und nach Unterstützung von Gewerkschaft und Betriebsräten beim Krisenmanagement rufen wie einst bei der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 – sondern dass sie auch ihre Aktionäre in die Pflicht nehmen und in der anstehenden  Hauptversammlungssaison ihre Ausschüttungspläne überdenken.