Schwerbehindertenvertreterinnen und -vertreter trafen sich zum ersten Mal seit Corona wieder zum persönlichen Austausch in der IGBCE-Hauptverwaltung
SBV-Jahrestagung 2022
Dieses Thema betrifft immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer: Jede*r achte Deutsche hat inzwischen eine Behinderung. Deswegen ist der Einsatz für Kolleginnen und Kollegen mit Einschränkungen alles andere als ein Nischenthema. Das wurde deutlich bei der 16. Jahrestagung der Schwerbehindertenvertretungen (SBV). Nach zwei Jahren Corona-Zwangspause, in denen die Veranstaltung digital stattfand, war die Freude groß, sich wieder persönlich in der IGBCE-Hauptverwaltung in Hannover auszutauschen. »Wir sind zum ersten Mal wieder zusammen unterwegs«, erzählen die vier Schwerbehindertenvertreterinnen von Merck aus Darmstadt. »Für uns ist das fast ein Event.«
„Die Schwerbehindertenvertretungen sind eine eingeschworene Gemeinschaft. Hier ist nicht so viel Wechsel wie bei den Betriebsräten. Das ist meine 16. SBV-Tagung und ich treffe hier Leute, die ich von Anfang an kenne.“
Stefan Langweg, HVG Grünflächenmanagement GmbH, Gelsenkirchen
„Als Schwerbehindertenvertretung erfahren wir die ärgsten und intimsten Dinge von Kolleginnen und Kollegen. Zum Teil wissen das nicht einmal die Familien. Das ist ein immenser Vertrauensvorschuss, den wir bekommen.“
Michele Knöll, Merck, Darmstadt
„Bei uns fangen jedes Jahr 30 Azubis an. Unser Ziel als Schwerbehindertenvertretung ist, dass jedes Jahr ein Schwerbehinderter dabei sein soll. In diesem Jahr sind es sogar zwei.“
Christoph Toups, Covestro Deutschland AG, Uerdingen
Für Birgit Biermann, Mitglied im geschäftsführenden Hauptvorstand der IGBCE, war die SBV-Tagung eine Premiere. Sie stellte zum Einstieg statistische Daten aus der alternden Arbeitsgesellschaft vor. Ihr Fazit: »Am Ende des Arbeitslebens, ab 55 Jahren, steigt das Risiko rasant an, eine Behinderung zu bekommen.« Christoph Toups, Schwerbehindertenvertreter bei Covestro in Uerdingen, kennt das: »Wer 30, 40 Jahre auf Schicht war, hat seine Zipperlein.« Gleichzeitig haben Menschen mit Behinderungen im fortgeschrittenen Alter ein viel höheres Risiko als Gesunde, ihren Job zu verlieren. Hier setzt das Engagement der Schwerbehindertenvertreterinnen und -vertreter an, um die Betroffenen in der Firma zu halten. »Unser Ziel ist Respekt, Solidarität und Chancengleichheit für alle«, sagte Birgit Biermann und erntete lauten Applaus.
Doch obwohl das Thema Inklusion immer mehr Menschen betrifft, drohe es angesichts der aktuellen globalen Krisen unter die Räder zu kommen, warnte Corinna Rüffer, behindertenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag. Bei der Podiumsdiskussion bekam sie dafür Zustimmung aus dem Publikum. Vertreter*innen der Ampelkoalition und der CDU stellten sich den Expertinnen und Experten aus der Praxis. »Beim Thema inklusiver Arbeitsmarkt schwächelt der Koalitionsvertrag«, stellte Rüffer selbstkritisch fest. Immerhin ist vorgesehen, die Ausgleichsabgabe für Unternehmen mit mehr aus 20 Mitarbeitenden zu erhöhen, die ihrer Verpflichtung nicht nachkommen, Schwerbehinderte einzustellen. Doch die Höhe der Sanktion ist noch strittig. Adis Ahmetovic (SPD) plädierte für eine Verdoppelung auf 720 Euro. Wilfried Oellers (CDU) entgegnete, kleine Unternehmen, die keine Personalabteilung hätten, bräuchten Beratung statt Sanktionen.
Die große Koalition war daran gescheitert, die »Versorgungsmedizinverordnung" zu modernisieren, in der die Grade der Behinderung definiert werden. Grundzüge der bisherigen Verordnung stammen noch aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, erklärte Jens Beeck (FDP): »Bei fehlenden Gliedmaßen gibt es heute ganz andere Therapiemöglichkeiten.« Außerdem würden psychische Erkrankungen heute viel öfter festgestellt.
IGBCE-Vorständin Birgit Biermann stellte die Kampagne zur im Oktober anstehenden Neuwahl der Schwerbehindertenvertretungen vor. „Dein Kreuz für Barrierefreiheit“ lautet das Motto. In Arbeitsgruppen tauschen sich die Teilnehmenden am zweiten Tag über ihre Erfahrungen und Strategien aus.