Transformation ist der Begriff der Stunde. Doch der Veränderungsprozess hin zu einer modernen Industrielandschaft gerät angesichts teurer Energie, mangelnder Infrastruktur, Nachfrageschwäche und Sparplänen ins Stocken. Auf der Betriebsräte-Jahrestagung der IGBCE beschäftigten sich rund 150 Belegschaftsvertreterinnen und Vertreter mit dem Thema „Next Generation: Arbeitswelt anders gestalten“ – und warum Betriebsräte gerade in Krisenzeiten mitmischen sollten.
Oftmals hilft ja ein Blick in die Vergangenheit zur Einordnung der aktuellen Lage – und die ist speziell für die energieintensiven Industrien im Land gerade angespannt. IGBCE-Chef Michael Vassiliadis zieht deswegen in seiner Eröffnungsrede den Vergleich zum Jahr 2008 – dem Jahr der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise, der bislang „schwierigsten wirtschaftlichen Herausforderung der Nachkriegszeit“, so Vassiliadis. Auch die erste BR-Jahrestagung der IGBCE fand in dem Jahr statt.
Damals sei in Folge der Weltwirtschaftskrise das Bruttosozialprodukt drastisch gesunken. „Es war ein Schock und wir waren nicht sicher, ob wir das hinkriegen. Oder ob wir erleben müssen, wie in Deutschland in großem Maßstab industrielle Strukturen zerstört werden“, ruft er in Erinnerung. Tatsächlich habe Deutschlands Industrie die damalige Krise gut überstanden, sei sogar stärker aus ihr herausgekommen. Auch und gerade, weil die Sozialpartner sich zusammengetan und alle an einem Strang gezogen hätten. „Im Zusammenspiel der Kräfte haben wir – anders als viele europäische Industrieländer – den Turnaround geschafft“, erklärt der Gewerkschaftschef. Damals habe man bewiesen: „Wir haben die Kraft, die Zukunft zu gestalten. Trotz aller dunklen Wolken in unserer heutigen Zeit sollten wir uns dieser Kraft bewusst sein.“ Diese Zuversicht dürfe man nicht verlieren – auch trotz aller aktuellen Probleme nicht.
Und die sind durchaus zahlreich, wie Vassiliadis erläutert. Ein Grund: Die Zeit der „großen Party“ in den Nuller und Zehner-Jahren, in der „alles leicht und gut ging“, sei nicht für Reformen oder große Infrastrukturprojekte genutzt worden. Wohnungsbau, Infrastruktur, Integration, Bildung – all diese Bereiche seien kaputtgespart und auf Verschleiß gefahren worden. Diese Kurzsichtigkeit falle der Politik heute auf die Füße. Beispiel: Allein die Bahn bräuchte pro Jahr Investitionen in Höhe von 20 bis 40 Milliarden Euro, um wieder vernünftig aufs Gleis gesetzt zu werden.
Vassiliadis betont, dass man nicht mehr wie in den vergangenen Jahren ehrgeizige politische Ziele ausrufen könne und den Rest dann dem Markt überlasse. „Das funktioniert nicht.“ Um die energieintensiven Branchen in die Zukunft zu führen und ihre Transformation voranzutreiben, sei deshalb die schnelle Einführung eines Brückenstrompreis unverzichtbar – „damit unsere Industrien nächstes Jahr noch existieren“. Der Brückenstrompreis sei dabei nicht die „endgültige Lösung und eben auch nur eine Brücke. Aber das ist klar: Wenn der nicht kommt, ist es für viele vorbei“, warnt der IGBCE-Vorsitzende.
Eindringlich appelliert er an die 150 Betriebsrätinnen und Betriebsräte, sich in die konkrete Gestaltung der Transformation vor Ort einzumischen: das Thema beim Arbeitgeber immer wieder in den Fokus rücken, neben dem Wirtschaftsausschuss auch einen Transformationsausschuss gründen, im steten Austausch zu bleiben. „Wir müssen der Treiber dieser Transformation sein.“
Wie das aussehen kann, erläuterte Andrea Sacher, Vize-Gesamtbetriebsratsvorsitzende der Bayer AG und BR-Chefin am Berliner Bayer-Standort. 2022 habe man gemeinsam mit dem Arbeitgeber die Gesamtbetriebsvereinbarung „Zukunftskonzept Deutschland“ abgeschlossen. In dieser seien sehr konkret Maßnahmen vereinbart worden – etwa, dass alle drei Bayer-Divisionen Teil des Konzerns bleiben und die jeweiligen Zentralen in Deutschland und Europa verbleiben. Auch feste Investitionszusagen für Standorte und Produktionsanlagen seien niedergeschrieben worden. Vier Mal im Jahr treffe sich nun ein „Zukunftskommission“, in dem neben Betriebsratsmitgliedern auch DGB, IGBCE und die Bayer-Arbeitsdirektorin sitzen. „Wir prüfen dabei jedes Mal dezidiert, was an vereinbarten Maßnahmen bereits umgesetzt wurde und was nicht“, berichtet Sacher. In einer Division sei man da mit vielen grünen Häkchen gut unterwegs, bei den anderen hapere es noch ein wenig, aber man sei weiterhin dran. Zudem wurde vereinbart, dass sich auch der Bayer-Vorstand zwei Mal jährlich mit dem Zukunftskonzept beschäftigen müsse. „Die Geschäftsführung ist nun gezwungen, sich regelmäßig mit uns auszutauschen“, so Sacher. Ihre Bilanz: „Betriebsräte sind heute wichtiger denn je.“ Auf die Frage, ob das nicht mehr Co-Management sei als reine BR-Tätigkeit, antwortet Sacher deutlich: „Ja, wir sind Co-Manager. Wir schauen dem Arbeitgeber jetzt genauer auf die Finger.“ Der Betriebsrat habe sich für diesen Weg entschieden, weil es damit möglich sei, viel früher in die Investitionsplanung einzugreifen und „so zu steuern, dass wir auch künftig gut bezahlte Arbeitsplätze in Deutschland behalten“. Nun könne man sehr früh nachfragen, warum beispielsweise in Standort X nicht mehr investiert werde – und nicht erst drei Jahre später, wenn ein Stellenabbau quasi schon beschlossene Sache sei und man als Betriebsrat kaum noch gegensteuern könne.
Auch der Betriebsrat am Evonik-Standort Hanau ist den Weg Richtung Co-Management gegangen und ist damit Treiber der Transformation im Chemiepark geworden. Angefangen, so berichtet der Hanauer Betriebsratsvorsitzende Matthias Krebs, habe alles 2019, als man das Gefühl bekam, der Standort gerate unter Druck und die Abwanderung von Forschungseinrichtungen könne drohen. Der Betriebsrat startete das Projekt „Step 2026“ – und eine große Befragung unter der Belegschaft, welche Lösungsansätze und Ideen es gebe, um den Chemiepark mit seinen 5500 Beschäftigten (davon 3500 bei Evonik) zukunftsfähig zu machen. „Uns war klar: Wir können die Themen Transformation und Nachhaltigkeit nicht allein dem Vorstand überlassen, da müssen wir selbst ran“, so Krebs. Die Belegschaft machte mit: 900 Beschäftigte reichten 1400 Ideen ein, die anschließend geclustert wurden und über mehrere Schritte letztendlich in vier Themenbereiche – wie etwa Transformation oder Infrastruktur – sortiert wurden. Konkrete Vorschläge, etwa zu Kreislaufwirtschaft, Energiesparen, Mülltrennung, versuche man nun umzusetzen. „Das hatte zur Folge, dass sich auch das Management verstärkt mit diesen Fragen beschäftigen musste“, sagt Krebs. Es gebe mittlerweile auch einen Transformationsausschuss, in dem alle Themen bewertet und besprochen würden, man gelte als Vorzeigestandort bei Nachhaltigkeitsthemen. Krebs ist sicher: „Unsere Belegschaft spürt, dass wir uns gemeinsam um die Zukunft des Standorts kümmern.“
In einer Podiumsdiskussion mit IGBCE-Vorstandsmitglied Alexander Bercht lag der Fokus auf einem weiterem Problemfeld – dem Fachkräftemangel. Bercht hob im Gespräch mit Bayer-Betriebsrätin Andrea Sacher und Michael Kellner, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, die Wechselbeziehung zwischen Industrie und Sozialstaat hervor: „Ohne die industrielle Wertschöpfung im Land könnten wir uns unseren Sozialstaat gar nicht leisten.“ Allerdings steuere das Land derzeit auf „ein demografisches Loch“ zu, es drohe eine „Katastrophe am Arbeitsmarkt, wenn wir das mit dem Fachkräftemangel nicht geregelt kriegen“, so Bercht. Um die Rentenabgänge der kommenden Jahre einigermaßen aufzufangen, müssten alle Stellschrauben gedreht werden: qualifizierte Einwanderung, mehr Frauen in Erwerbstätigkeit bringen – und endlich die Schulabbrecherquoten senken. „Es wird immer noch hingenommen, dass jedes Jahr 50.000 Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss die Schule verlassen, keine Ausbildung machen. Das ist skandalös“, sagt Bercht. Betriebe und Politik müssten verstärkt auf Abbrecher zugehen und sie in den Arbeitsmarkt einbinden.
Neben interessanten Podiumsdiskussionen werden bei der zweitägigen Konferenz für die rund 150 Betriebsrät*innen mehrere Workshops in der Hauptverwaltung angeboten, unter anderem zu den Themen Mobiles Arbeiten, Arbeitszeiterfassung und Künstliche Intelligenz.