Betriebsrätejahrestagung

"Ich habe Alarmstufe 1 ausgerufen"

Krieg, Energiekrise und Umwälzungen in der Wirtschaft machen die neue Amtszeit für Belegschaftsvertretungen besonders herausfordernd. In Hannover treffen sich knapp 150 Betriebsrätinnen und Betriebsräte zu ihrer Jahrestagung.

Betriebsrätejahrestagung 2022
Foto: © Helge Krückeberg

„Als ich vor 15 Jahren hier stand, hatte ich mehr und dunklere Haare“, scherzte der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis bei der Begrüßung. Er eröffnete die mittlerweile 15. BR-Jahrestagung mit einem Schmunzeln – um dann allerdings schnell zu einer ernsten Tonlage zu wechseln: „Ich habe die Alarmstufe 1 ausgerufen“, betonte er. Gerade komme er aus einem Videocall, in dem es um Hilfen für ein ins Schleudern geratenes Unternehmen ging. „Die Regierung rettet gerade jeden Tag ein Unternehmen“, berichtete er. Denn zu den Transformationsprozessen, vor denen die Wirtschaft ohnehin steht –  Fachkräftemangel, Klimawandel, Digitalisierung, um nur einige zu nennen – sind der Krieg und die Energiekrise gekommen. „Diesmal wird es fundamental. Die Gewerkschaften sind in ihrer Genetik gefordert“, analysierte Vassiliadis.

Die knapp 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind nach den BR-Wahlen im Frühjahr 2022 frisch in die neue Amtszeit gestartet. In der IGBCE-Hauptverwaltung in Hannover treffen sie sich unter dem Motto „Zusammen weitergehen - gute Arbeit im Betrieb gestalten“. Im Fokus der dreitägigen Tagung stehen neben den aktuellen politischen Herausforderungen auch praktische Themen wie Arbeitszeit, Stärkung der Position von Frauen in Betriebsräten oder Mitbestimmung bei Schichtarbeit. Vassiliadis hob zum Auftakt die Stärken der IGBCE hervor: In den Branchen, in denen sie Beschäftigte vertritt, herrscht die höchste Tarifbindung. Bei den Betriebsratswahlen hatten die Listen der IGBCE weniger Konkurrenz und mehr Zustimmung als andere Gewerkschaften im DGB. Allerdings: „Wir haben eine weit höhere Zustimmung als Organisationsgrad.“ Das bedeute, dass alle Aktiven gefordert seien, neue Mitglieder zu werben. Hinzu komme, wie ein Teilnehmer in der Diskussion betonte: Längst nicht alle gewählten Betriebsräte sind wirklich für die Beschäftigten aktiv.

Vassiliadis versprach, sich angesichts der von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufenen Zeitenwende für den Erhalt der Standorte gerade energieintensiver Unternehmen stark zu machen: „Wir müssen die industriellen und innovativen Kapazitäten in Europa erhalten“, forderte er. „Die Welt wird nicht besser, wenn Europa ausgeschaltet ist.“ Einer Betriebsrätin aus der Pharmaindustrie versicherte er: „Gerade diese Branche ist ein Innovationstreiber.“ Eine klare Absage erteilte Vassiliadis dem Szenario einer „Lohn-Preis-Spirale“, das regelmäßig gegen Lohnerhöhungen ins Feld geführt wird. „Das ist absoluter Unsinn.“ Die Debatte stamme aus den 1970er Jahren, als das Verhältnis von Löhnen und Preisen noch ein ganz anderes war. Seitdem seien die Preise in viel höherem Maß gestiegen als die Löhne.

Kontrovers wurde diskutiert, ob Deutschland ein „heißer Herbst“ mit Protesten und Radikalisierung bevorstehe. Während extreme Kräfte von links und rechts die Ängste der Menschen für sich ausnutzen, warb Vassiliadis um Zuversicht. Moderatorin Merle Becker brachte es schließlich so auf den Punkt: „Es wird alles schwierig, aber dafür sind wir da.“

„Zur Jahrestagung kommt – wie geil! – sogar Hubertus Heil“, reimte Comedian Christoph Brüske in einem eigens für den Anlass geschriebenen Song. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist Mitglied der IGBCE und stellte sich der Diskussion mit den Gewerkschafter*innen. Die Botschaft von Barbara Kraller, stellvertretende Betriebsratsvorsitzende bei der Wacker Chemie AG in Burghausen, an den Minister: „Ich brauche mehr Augenhöhe. Wir Betriebsräte sind Co-Manager.“ Francesco Grioli, Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstandes der IGBCE, schilderte ihm den Fachkräftemangel in den Branchen: „Ich kenne Unternehmen, da stehen ganze Bänder oder Anlagen still, weil keine Leute da sind.“ 

Heil versprach ein ganzes Bündel von Maßnahmen: Von mehr Erwerbsbeteiligung von Frauen über Werbung um ausländische Arbeitskräfte bis zur Nutzung der Potentiale von Menschen mit Behinderungen. Zudem stellte er seine Pläne für eine „nationale Weiterbildungsstrategie“ vor und warb um Unterstützung: „Dafür brauche ich euch.“ Heil möchte ein „Qualifizierungsgeld“ für Unternehmen einführen, die von den Entwicklungen in ihrer Branche überrollt werden und Beschäftigte nicht entlassen, sondern weiterbilden – allerdings an die Bedingung geknüpft, dass es dort einen Betriebsrat gibt. „Auch in meinem Alter – also mit fast 50 – muss es die Möglichkeit geben, einen ganz neuen Job zu lernen“, fordert er. 

Der SPD-Politiker warnte davor, dass die aktuellen Krisen die Gesellschaft spalten. „Das ist genau das, was Putin will.“ Demnächst sei mit einer Kampagne der Arbeitgeber gegen das neue Bürgergeld zu rechnen. Sein Kommentar: „Es gehört sich nicht, Geringverdiener und Arbeitslose gegeneinander auszuspielen.“ Barbara Kraller kritisierte, dass immer noch Leiharbeit und sachgrundlose Befristung zulässig sind – Instrumente aus einer Zeit, als die Arbeitgeber noch den Markt bestimmten. „Das führt dazu, dass die Krisen von den Stamm-Beschäftigten nicht so schlimm wahrgenommen werden“ – von den prekär Beschäftigten dafür um so eher. Heil gab den Gewerkschafter*innen ein Versprechen: „Ich bin nicht neutral. Ich bin auf eurer Seite.“