Interview Professorin Rita Meyer

"Eine lernfreundliche Umgebung im Betrieb schaffen"

Digitalsierung beschäftigtengerecht gestalten: Die Bildungs- und Arbeitsforscherin Rita Meyer über lebenslangen Wissenserwerb, die soziale Dimension des technischen Fortschritts und die steigende Bedeutung von Gewerkschaften im Digitalen Wandel.

Professorin Rita Meyer

Rita Meyer, Professorin am Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung der Leibniz Universität Hannover, untersucht im aktuellen Forschungsprojekt „Lernort Betrieb 4.0“, wie und was Beschäftigte lernen müssen und was Unternehmen tun müssen, um auf die Digitalisierung vorbereitet zu sein.

Foto: © Leibniz Universität Hannover

Frau Professor Meyer, die Arbeitswelt ist durch die Digitalisierung im Wandel. Wo stehen wir? Wohin gehen wir beim Lernen?
Wir wissen noch nicht, wohin die Reise wirklich geht. Unternehmen und Beschäftigte sind gleichermaßen verunsichert, wie sich Digitalisierungsprozesse auf die Arbeitsgestaltung und auf die Qualifikationsanforderungen auswirken werden. Allerdings ist die chemische Industrie im Vergleich zu anderen Branchen sehr gut aufgestellt. Wir erleben in unseren Unternehmensfallstudien eine relative Gelassenheit im Umgang mit dem Thema. 

Das heißt, die chemische Industrie scheint auf die Veränderungen besser vorbereitet als andere?
Ja. Die Beschäftigten in der chemischen Industrie sind höher qualifiziert als in anderen Branchen des verarbeitenden Gewerbes. Zudem haben die chemischen Produktionsprozesse traditionell einen hohen Automatisierungs- und Vernetzungsgrad. Computergestützte Prozessmess- und Leitsysteme sind in der Chemiebranche schon seit den 1970er Jahren etabliert und werden seitdem ständig optimiert.

Dennoch müssen die Beschäftigten Neues lernen. Wie und wo lernen sie am besten?
Wer über eine qualifizierte berufliche Aus- oder Weiterbildung verfügt, ist erst einmal gut vorbereitet. Das ist in der chemischen Industrie die Mehrheit. Eine fundierte Berufsausbildung bildet die Basis für alle weiteren Qualifizierungsschritte – insbesondere beim informellen Lernen. Das sind Lernprozesse, die selbstgesteuert und am Arbeitsplatz stattfinden, zum Beispiel beim Austausch mit Kollegen. Ein älterer Mitarbeiter kann einen jüngeren beispielsweise fragen, wie man ein digitales Lesegerät bedient. Aber auch soziale Netzwerke kommen in Frage, um Antworten zu bekommen und Neues zu lernen.

Wie können Arbeitgeber dieses informelle Lernen im Betrieb fördern?
Die Unternehmen müssen Rahmenbedingungen schaffen, die verhindern, dass auch die an- und ungelernten Arbeitskräfte nicht abgehängt werden – gerade in Zeiten des Fachkräftemangels. Diese Beschäftigten verfügen in der Regel über einen langjährig erworbenen Schatz an Erfahrungswissen, den es zu heben gilt. Zum Teil sind das Erfahrungen, die junge Facharbeiter gar nicht mehr machen können, weil die Arbeitsprozesse immer abstrakter werden. Hier bietet es sich zum Beispiel an, altersgemischte Tandems zu bilden, die sich arbeitsplatznah gemeinsam qualifizieren: Die einen haben die Fähigkeit, mit den digitalen Medien besser umzugehen, die anderen verfügen über das Erfahrungs- und Prozesswissen aus den Abläufen.

Da umtreibt Beschäftigte und Arbeitnehmervertreter die Frage, wann die Mitarbeiter lernen sollen: Während der Arbeitszeit, in Schulungen oder in Eigeninitiative in der Freizeit?
Schulungen und Kurse außerhalb der Arbeit haben sich nicht bewährt. Es ist schwierig, das Gelernte auf die eigene Arbeit zu übertragen. Daher versuchen die Unternehmen heute, neue Formen der Arbeitsorganisation zu schaffen. Im besten Fall läuft die Qualifizierung selbstorganisiert, also im Arbeitsprozess mit. Allerdings hat die Befragung „Arbeit 2020“ der IG BCE Nordrhein gezeigt: Dies führt auch dazu, dass die Beschäftigten den Umgang mit der Digitalisierung als psychische Herausforderung und Stress erleben. Es geht also darum, Arbeiten, Lernen und Leben in der Balance zu halten. Wir haben dafür im Rahmen eines Projektes Instrumente zur Work- Learn-Life-Balance entwickelt, die zum Teil auch in der chemischen Industrie schon zum Einsatz kommen. Aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen muss das jeder Betrieb individuell gestalten.

Sie sprechen die Rolle der IG BCE an. 
Ja, die Bedeutung von Gewerkschaft und Betriebsräten steigt bei der Bewältigung des digitalen Wandels.

Wie genau können die Sozialpartner das Lernen während der Arbeit unterstützen?
Das Modell geht davon aus, dass alle Tätigkeiten, auch die einfachen, Lernpotenzial bieten. Allerdings muss die Lerninfrastruktur der Arbeit geschaffen und organisiert werden, auch durch betriebliche Bildungsarbeit. Zum Beispiel können dafür regionale Sozialpartnerprojekte beschlossen werden oder Betriebsräte vor Ort setzen sich dafür ein. In Tarifverhandlungen können Arbeitnehmervertreter das Ziel verfolgen, Arbeit lernförderlich zu organisieren und das in Betriebsvereinbarungen zu regeln.

Das heißt: Gewerkschaft und Betriebsräte sollen Strukturen für das lebenslange Lernen im Betrieb schaffen?
Unserer Erfahrung nach sind die Betriebsräte auf diesem Feld schon sehr aktiv. Vor allem in der chemischen Industrie gestalten sie lernförderliche Arbeitsbedingungen. Aber wir stellen auch fest: Betriebliche Projekte im Prozess der Digitalisierung zielen derzeit im Wesentlichen auf technische Innovationen ab. Qualifizierung betrachten die Mitwirkenden funktional und technokratisch. Die soziale Dimension der Arbeit bleibt weitgehend auf der Strecke.

Betriebsräte sollten sich also auf diese soziale Komponente fokussieren?
Betriebsräte sollten den Spielraum, den sie innerhalb der betrieblichen Mitbestimmung haben, nutzen. Es ist Zeit, dass die Sozialpartner (Weiter-)Bildung und den Erwerb von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen auf die Tagesordnung setzen. Sie sollten sich für Möglichkeiten einsetzen, damit Beschäftigte ihre Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten erweitern können.